Ethnisierung der Politik im 20. Jahrhundert

Prof. Dr. Michael Wildt
2010

Prof. Dr. Michael Wildt, Lehrstuhl Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus Humboldt Universität zu Berlin

Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

Ethnisierung der Politik im 20. Jahrhundert

Eine Skizze

Das neunzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert der Nationen – das zwanzigste das des Volkes. Ohne Zweifel liegen beide Begriffe eng beieinander, oftmals scheinen ihre semantischen Felder sogar kongruent zu sein – und doch fallen sie nicht in eins. Mit der Gleichsetzung von Volk und Nation geraten die Differenzen aus dem Blick, die das zwanzigste Jahrhundert in seiner spezifischen Gewalttätigkeit vom neunzehnten unterscheidet.

Die Französische Revolution hat mit Emphase das Volk zur Nation und diese zum alleinigen Souverän erklärt: "Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément", hieß es in der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789. Vier Jahre später, in der Verfassung vom 24. Jui 1793, trat das Volk an die Stelle der Nation: "La souveraineté réside dans le peuple; elle est une et indivisible, imprescriptible et inaliénable." Ergänzend lautete der Art. 7: "Le peuple souverain est l'universalité des citoyens français." Diese Ambivalenz des politischen Volks zwischen souveräner Universalität und individueller Staatsbürgerschaft, oder in den Begriffen von Jean-Jacques Rousseau, als dessen Schüler sich die Jakobiner ganz und gar verstanden, zwischen volonté générale und volonté de tous, bleibt der Debatte um das Volk und seine Souveränität eingeschrieben.

Wer soll zum Volk gehören? Schon Olympe de Gouges erzürnte sich gegen die Männer der französischen Revolution, dass die Bürgerrechte den Frauen vorenthalten blieben. Wenn Maximilien Robespierre wortgewandt für das allgemeine, gleiche Wahlrecht eintrat, waren damit allein die erwachsenen freien Männer gemeint, Frauen und Sklaven ausgeschlossen. Und wie drückt das Volk seinen Willen aus? Rousseaus Vorschlag, viele kleine politische Einheiten zu schaffen, damit sich das Volk jeweils versammeln kann, um Gesetze zu verabschieden, da nur das Volk selbst seinen allgemeinen Willen formulieren könne, war augenscheinlich praktisch undurchführbar. Aber Rousseaus prinzipielle Kritik an der Vorstellung, das Volk könne durch Repräsentanten vertreten werden, und sein beharrendes Insistieren darauf, dass das politisch souveräne Volk nicht in den bloß interessegeleiteten Mehrheitsentscheidungen der Vielen zu finden sei, warf immer wieder die Frage auf, wie denn der allgemeine Wille des Volkes zum Ausdruck komme. War es nicht denkbar, dass eine kleine Gruppe oder gar ein Einzelner eben diesen allgemeinen Willen verkörperte, möglicherweise sogar gegen die Mehrheitsmeinung? Die Antwort hieß Gesetz und Repräsentation – das war die Formel für die Nation als Rechtsstaat im 19. Jahrhundert. Wenn jedwede metaphysische Begründung für Herrschaft, insbesondere der königliche Anspruch, durch Gottes Gnaden zu regieren, mit der Aufklärung in Verfall geriet, konnte nur die Bürgerschaft selbst und ihre Repräsentanten im Parlament die Quelle legitimer Gesetzgebung sein. Im Prinzip war eine solche Assoziation von Bürgern keineswegs an die Gemeinsamkeit von Abstammung, Sprache oder Kultur gebunden.

Aber die Nation als Volk ließ sich auch vorkonstitutionell behaupten, aufgrund ihrer Geschichte, Kultur oder gar ihres gemeinsamen Blutes, die erst noch Staat werden müsse. Kaum einer der europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts vermochte eine einheitliche Nationalkultur aufweisen. Sie musste vielmehr, durchaus mit Zwang, erst geschaffen werden. Die jeweiligen Nationalisierungspolitiken, die vor allem der Durchsetzung einer Nationalsprache, eines einheitlichen Schulsystems und nicht zuletzt der Herausbildung einer

Nationalgeschichtsschreibung dienten, zeugen von dem intensiven Bemühen, "Peasants into Frenchmen" (Eugen Weber) zu verwandeln, also davon, die Nation im Staat erst noch herzustellen.

Selbst ein Torso wie der kleindeutsche Fürstenbund, der sich 1871 unter Führung Preußens zusammenschloss und zum deutschen Nationalstaat erklärte – galt fortan als solcher. Das Ordnungsmodell blieb staatlich gedacht: "Jede Nation ein Staat", formulierte der liberale Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli.

Dieser Grundsatz mochte für die bestehenden Staatsnationen wie Frankreich, Spanien oder Portugal in ihrer nationalen Homogenisierungspolitik bestärken, für die noch staatenlosen Nationalbewegungen, insbesondere in den drei multinationalen Imperien, dem russischen, Habsburger und osmanischen Reich, bedeutete sie eine Aufforderung, größere Autonomie oder auch die staatliche Unabhängigkeit zu fordern, notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Das Problem der idealiter geforderten Übereinstimmung von Nation, Volk und Territorium wurde für die europäische Staatenwelt durch den Wiener Kongreß 1815 keineswegs gelöst. Im Gegenteil, gerade die selbst klassische, konservative Staatsrechtsdefinition des 19. Jahrhundert, Georg Jellineks Trinität von Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt als paradigmatische Struktur des Nationalstaates konnte bestehende staatliche Ordnungen aufsprengen, was am Schicksal der drei Reiche des Zaren, der Habsburger und der Osmanen abzulesen ist.

Weder die Nationalstaatsgründungen von Griechenland, Serbien, Bulgarien und Montenegro im Laufe des 19. Jahrhunderts, noch das Arrangement der Großmächte auf der Berliner Konferenz 1878 zur Klärung der damals virulenten "Orientalischen Frage" vermochten Nation, Volk und Territorium auf der Balkanhalbinsel zu harmonisieren. Vielmehr förderte die unübersehbare Schwäche des Osmanischen Reiches das Begehren der jungen Nationalstaaten, ihr Territorium auszuweiten. Mit starker Unterstützung Rußlands erklärten Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro im Oktober 1912 dem Osmanischen Sultanat den Krieg und eroberten innerhalb weniger Wochen die noch verbliebenen osmanischen Gebiete auf der Balkanhalbinsel, in erster Linie Albanien, Thrakien und Makedonien. Doch brach das Bündnis rasch auseinander; die eben noch verbündeten Staaten bekriegten sich nun untereinander, weil die jeweiligen nationalen Ansprüche auf die gemeinsam eroberten Territorien konträr aufeinanderprallten. Diese Balkankriege 1912/13 waren bereits durch all jene Gewaltphänomene gekennzeichnet, die wir heute als "ethnische Säuberungen" identifizieren. Jene Gewaltexzesse, die europäischen Kolonisatoren in der kolonisierten Welt verübten, erreichten nun Europa selbst: Ganze Dörfer wurden umstellt und die Männer erschossen. Die übrige Bevölkerung, Frauen, Kinder, alte Menschen wurden in der örtlichen Kirche oder Moschee zusammengetrieben, die Gotteshäuser dann angezündet, so dass die schutzlosen Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Zurückweichende Armeen brannten ganze Dörfer nieder, um die Bevölkerung zu vertreiben. Hatten früher Muslime in Thrakien sich noch dadurch zu schützen versucht, dass sie christliche Kreuze auf ihre Häuser malten, half dies in den Balkankriegen nicht mehr. Ihre Häuser wurden identifiziert und zerstört. Die kulturelle Aufladung der Kriege als „Befreiung“ des christlichen Abendlandes vom „muslimische Joch“ führte insbesondere zur systematischen Vertreibung der muslimischen Bevölkerung von der Balkanhalbinsel. Die neu eroberten serbischen, griechischen und bulgarischen Gebiete wurden einer rigorosen Siedlungspolitik unterworfen, obwohl beziehungsweise gerade weil die eigene Nationalität oftmals nur eine Minderheit darstellte. Es waren nicht zuletzt diese Morde und Vertreibungen von Muslimen aus Europa, die den "Jungtürken" als Legitimation dienten, um ihrerseits christliche Armenier und Griechen zu deportieren und zu ermorden.

Die Grenzen zwischen regulärer Kriegführung, ethnischen Säuberungen und genozidalem Morden verwischten in den Balkankriegen und Wolfgang Höpken hat sie mit gutem Grund als ethnische Kriege bezeichnet. Ethnische Säuberung war nicht eine Nebenerscheinung der Kriegführung, sondern die Kriegführung selbst war tief geprägt von ethnischen Zwecken und Zielsetzungen.

Der erste Staatsvertrag über einen sogenannten Bevölkerungstransfer wurde 1913 zwischen Bulgarien und der Türkei geschlossen, wobei bereits dieser Vertrag – ähnlich wie der von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei im Jahr 1923 – vornehmlich die Funktion hatte, die bereits vollzogenen Vertreibungen nachträglich zu legalisieren.

Schon in diesen diversen Vertragswerken, mit denen neue territoriale Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel kodifiziert werden sollten, erwies sich die Abgründigkeit des Unterfangens, ethnische Differenzen als Staatsgrenzen festzuschreiben. Wie entscheidet man, ob beispielsweise die Stadt Debar zu Albanien oder Serbien gehört? Die eine Seite bestand darauf, dass Debar überwiegend von albanischen Muslimen bewohnt werde, während die andere Seite anführte, die Stadt sei nie ein albanischer Mittelpunkt gewesen: zwar gäbe es zwei orthodoxe Episkopate, eine bulgarische und eine serbische Schule, aber keine albanische; der gesamte Handel liege in den Händen von Christen und die umliegenden Dörfer würden überwiegend von Christen bewohnt.

Die Kriterien, nach denen die Nation als "gedachte Ordnung" (M. Rainer Lepisus) konstruiert wird, sind ebenso vielfältig wie strittig. Eric Hobsbawm hat darauf aufmerksam gemacht, dass ethnische Zugehörigkeit und der Sprachgebrauch gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu zentralen Kriterien der Nationsbestimmung avancierten, wobei insbesondere diejenigen

Gemeinschaftsverbände, die sich selbst zum Volk, zur Nation erklärten, ohne über einen eigenen Staat zu verfügen, das ethnische Argument in den Mittelpunkt stellten. Dem Konzept des Volks als demos, für das Rechtsgenossenschaft und staatsbürgerlicher Gleichheit kennzeichnend sind, steht die Vorstellung vom Volk als ethnos gegenüber, in dem imaginierte Abstammungsgemeinschaften, Geschichtsmythen, Phantasmen von gemeinschaftlichem Blut und Boden miteinander verknüpft werden.

In dieser spezifischen historischen Konstellation hat die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die sowohl die Bolschewiki wie der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkrieges in die Debatte warfen, eine enorme politische Strahlkraft entfalten können. Im zerfallenden Zarenreich, das laut der Volkszählung von 1897 eine deutliche Mehrheit nicht-russischer Völker beheimatete, klagten die Bolschewiki 1917 das Recht auf Sezession und die Bildung eines selbständigen Staates ein. Ende Oktober legte Lenin dem Allrussischen Sowjetkongreß, noch vor dem Dekret über die Verteilung des Bodens, eine Entschließung vor, in der sich der Rätekongreß zum uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht auch der kleinsten Völker im ehemaligen Zarenreich bekannte und alle nicht-russischen Völker aus dem Verband des Reiches entließ.

Während die Bolschewiki das Recht auf Selbstbestimmung eher strategisch instrumentalisierten, um Bündnispartner für die revolutionäre Zerschlagung des zaristischen Russlands zu gewinnen, war Wilsons Erklärung zweifellos ein Ausdruck des demokratischen Geists Amerikas. Seit Beginn des Krieges hatte der Präsident der Vereinigten Staaten wiederholt öffentlich betont, dass eine künftige Friedensordnung Europas nur gelingen könne, wenn die imperiale Unterdrückung des Freiheitsstrebens der kleinen Völker beendet und jedes Volk selbst über seine Regierung bestimmen würde. Die Proklamationen der neuen bolschewistischen Regierung in Moskau drängten Wilson dazu, nun seinerseits mit einem friedenspolitischen Programm vor die Weltöffentlichkeit zu treten. In einer Rede am 8. Januar 1918 verkündete er vor dem amerikanischen Kongress seine berühmten "14 Punkte", auf die sich später auch die deutsche Regierung ausdrücklich bezog, als sie im Oktober die militärische Niederlage eingestand und Waffenstillstandsverhandlungen anbot.

Der Grundsatz, von dem sein gesamtes Friedensprogramm ausging, sei, so Wilson wörtlich, "the principle of justice to all peoples and nationalities, and their right to live on equal terms of liberty and safety with one another". Neben der Offenlegung aller Verträge, der Freiheit der Seefahrt, der Gleichheit von Handelsbeziehungen und einer allgemeinen Abrüstung forderte Wilson die unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche, wobei den Interessen der betroffenen Bevölkerungen das gleiche Gewicht einzuräumen sei wie den Rechtsansprüchen der Kolonialmächte. Alle besetzten Gebiete sollten geräumt, insbesondere die Souveränität Belgiens wiederhergestellt werden.

Ein unabhängiger polnischer Staat sollte (wieder)erstehen, der die Gebiete umfasste, in denen eine unbestreitbar polnische Bevölkerung wohnte, ebenso sollte den Völkern Österreich-Ungarns die freieste Möglichkeit zu autonomer Entwicklung gewährt werden. Auch dem türkischen Teil des Osmanischen Reiches sei Souveränität zu gewähren, wobei den anderen, derzeit noch unter türkischer Herrschaft befindlichen Nationalitäten – hiermit waren, obwohl ungenannt, Armenier und Griechen gemeint – die Sicherheit ihres Lebens und eine absolut unbeeinträchtigte Möglichkeit zu autonomer Entwicklung garantiert werden müsse. Für den Balkan forderte Wilson gleichfalls die Räumung aller besetzten Gebiete; Serbien sollte freier Zugang zum Meer gewährt und die Beziehungen der Balkanstaaten untereinander durch freundschaftliche Verständigung gemäß der historisch etablierten Grundlinien von Zugehörigkeit und Nationalität geregelt werden. Kernstück der Konzeption Wilsons war die Bildung einer "general association of nations", dem späteren Völkerbund, der die politische Unabhängigkeit wie territoriale Integrität der großen und der kleinen Staaten gewährleisten sollte.

So diplomatisch abgewogen Wilsons Vorschläge waren und deshalb auch als Grundlage für die Friedensverhandlungen in Versailles 1919 dienen konnten, so traf seine Initiative dennoch auf ein Europa, das sich bereits nach dem "Blut" zu ordnen begonnen hatte. Die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker fachte die völkischen Ambitionen in Europa weiter an. Der Vertrag von Sévres, der als Versailler Folgevertrag dem Osmanischen Reich im August 1920 von den Alliierten diktiert worden war und der unter anderem die Bildung eines eigenen armenischen Nationalstaates in Ostanatolien vorsah, war das Papier nicht mehr wert, auf dem er geschrieben war. Griechenland hatte die osmanische Schwäche bereits ausgenutzt und im Mai 1919 die kleinasiatische Hafenstadt Smyrna und einen Küstenstreifen besetzt. Noch lebten im osmanischen Kleinasien über eine Million Griechen, und der Traum eines Großgriechenland schien jetzt Wirklichkeit werden zu können. Im Juli 1921 stieß griechisches Militär von der Ägäisküste aus nach Norden und Osten weit ins Landesinnere hinein, brannte in den eroberten Gebieten türkische Dörfer nieder und vertrieb deren Bevölkerung. Allerdings kam der griechische Angriff vor Ankara zum Stehen. Den türkischen Truppen unter Mustafa Kemal gelang eine erfolgreiche Gegenoffensive, die den Griechen einen heillosen Rückzug aufzwang, bei dem erneut ganze Dörfer verwüstet, Zivilisten misshandelt, vergewaltigt und getötet wurden. Im Hafen von Smyrna, von dem aus Zehntausende zu entkommen suchten, ereignete sich dann Mitte September die Katastrophe, als die Stadt zu brennen begann und die eingeschlossenen Flüchtlinge auf dem Kai den Flammen schutzlos ausgeliefert waren.

Der Vertrag von Lausanne, der im Juli 1923 von Griechenland und der Türkei sowie Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan unterzeichnet wurde, sanktionierte die Vertreibungen und Deportationen als "Bevölkerungstransfer": Sämtliche anatolischen Griechen, insgesamt eine Zahl zwischen 1,2 und 1,5 Millionen, von denen die meisten bis auf etwa 290.000 bereits vertrieben worden waren, hatten ihre Heimat zu verlassen ebenso wie etwa 350.000 Türken, die aus Griechenland in die Türkei vertrieben wurden.

Die unterzeichnenden Vertragsparteien waren im Übrigen keine totalitären Diktaturen. Frankreich, Großbritannien, Italien wurden ebenso wie Griechenland parlamentarisch regiert. Insofern scheinen demokratische Gesellschaften offenbar Praktiken ethnischer Säuberungen keineswegs auszuschließen und Volkssouveränität ist kein Hinderungsgrund dafür, exzessive Gewalt gegen Zivilisten auszuüben. In der Konzeption der Volkssouveränität steckt eine Ambivalenz, die nicht allein Partizipation, sondern auch Aggression (Dieter Langewiesche) zulässt, die mit Politiken der Inklusion ebenso vereinbar ist wie mit gewalttätiger Exklusion.

Bezogen auf Territorialität und Staat schaffen Entscheidungen über ethnische Zugehörigkeiten erst die Probleme, die sie zu lösen versprechen, weil jede ethnische Differenzierung ethnische Mehrheiten und Minderheiten herstellt, die unweigerlich Forderungen nach Homogenität des Territoriums auf den Plan rufen. Doch verschwimmt im Begriff der Ethnizität eine Differenz, die jenseits von Geschichte, Sprache, Kultur und Abstammungsmythen die Frage nach Leben und Tod neu stellt: diese Differenz wird der Begriff der Rasse zum Ausdruck bringen.

Die entscheidende Zäsur, die das Volk von der Nation trennt, setzt der Biologismus, sobald er zum Paradigma auch des Sozialen wird. Es lohnt sich meines Erachtens in diesem Zusammenhang Michel Foucaults These aufzunehmen, der zufolge seit Ende des 18. Jahrhunderts ein neues Machtregime in Europa auftaucht, das nicht mehr von der Souveränität, vom Recht, zu töten, geleitet wird, sondern von Technologien der Macht, die sich auf das Leben richten, auf Prozesse der Geburtenkontrolle, Fertilitätsraten, Hygiene, Seuchenbekämpfung:

"Bio-Politik", wie Foucault dieses neue Machtregime nennt.

Mit dem Aufkommen der Bio-Politik wird, so Foucault, der Rassismus ein grundlegender Mechanismus der Macht. Im biopolitischen Regime führen rassistische Überzeugungen signifikante Unterscheidungen in das biologische Kontinuum ein, nicht zuletzt diejenige zwischen Lebensformen, die fortexistieren sollen, und jenen, die sterben müssen. Für diesen Rassismus, der in der biologistischen Definition eines Volkes gipfeln kann, ist der Staat keine notwendige Implikation.

Bekanntlich wurden kulturelle Minoritäten in bestehenden Nationalstaaten mit repressiven Nationalisierungspolitiken bis zum Punkt der völligen Auflösung ihrer Identität assimiliert. Auf sie wurde fraglos erheblicher Druck und staatlicher Zwang ausgeübt, aber sie wurden nicht vernichtet. Das Konzept der Nation kann folglich ethnische Zuschreibungen beinhalten, die bereits Homogenitätsforderungen nach sich ziehen. Aber erst der Biologismus stempelt die Andersheit des "Anderen" zu einer Naturtatsache, ruft also unentrinnbar genetische und nicht mehr bloß genealogische Differenzen auf, die per definitionem nicht assimiliert werden können. Damit lösen mörderische Politiken der Segregation und Ausmerzung die vormaligen

Assimilationsprojekte ab.

Der Rassismus, der bei Foucault vornehmlich als funktionales biopolitisches Selektionskriterium erscheint, birgt ein eigenes Phantasma der Differenzierung und Hierarchisierung in sich, nicht bloß anderen Völkern und "Rassen" gegenüber, sondern gleichfalls innerhalb des eigenen Volkes. Die Ausbreitung des rassischen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts als qualitativ neue Form der Judenfeindschaft ist daher eng mit der Durchsetzung der Biologie als Leitwissenschaft des "Lebens" verbunden.

Nach innen gerichtet konnte das "Volk" mit der Entwicklung der biologischen Wissenschaften, insbesondere des Darwinismus und der Eugenik, über den Horizont einer bloß genealogischen Abstammungsgemeinschaft hinaus konstruiert werden: zum einen retrospektiv als geschichtliche "Blutsgemeinschaft" und zum anderen, in die Zukunft gerichtet, als Züchtungsgemeinschaft, als biopolitisch erst herzustellendes Kollektiv. Das Phantasma des "Neuen Menschen" erhielt eine vermeintlich wissenschaftlich verifizierte "natürliche" Grundlage und durch die neuen biopolitischen Technologien zugleich eine praktische Option zur gesellschaftlichen Realisierung.

So wie Volk unter biopolitischer Perspektive nicht mehr im Jellinek'schen Sinn als ein "Staatsvolk" zu fassen ist, so lässt sich auch das Territorium nicht mehr als kartographisch definiertes "Staatsgebiet" begreifen. „Lebensraum“ wird der Name für Territorien biopolitisch verfasster Völker. Ein solcher Lebensraum reicht über staatliche Grenzen hinaus, stellt sie sogar in Frage. Die Virulenz, mit der das Deutsche Reich, insbesondere nach 1933, die Frage der "Volksdeutschen" in Europa auf der Tagesordnung hielt, zielte nicht bloß auf die Revision des Versailler Vertrages, also die Rückkehr zu den Grenzen von 1914, sondern weit mehr auf die völkische Neuordnung Europas. Ähnlich agierten diversen Pan-Bewegungen, worauf Hannah Arendt schon früh hingewiesen hat. Territorialkonstruktionen wie etwa Großserbien, Großbulgarien oder Großgriechenland griffen über bestehende Nationalstaatsgrenzen weit hinaus.

Der Kartographie fiel dementsprechend eine immense Bedeutung zu, konnte man doch, worauf Benedict Anderson aufmerksam gemacht hat, mit Hilfe von Landkarten ein politischgeographisches Herrschaftsnarrativ konstruieren. So war die Bildung der Nationalstaaten eng mit dem Zensus, also mit der Zählung und Segmentierung von Bevölkerungen, verbunden, aber ebenso ein Schauplatz politisierter Kartographie: Grenzen sollten neu festgelegt und in ihren Geltungen politisch durchgesetzt werden. Die biopolitisch inspirierten, neuen Karten des Volkes verzeichneten demgegenüber in erster Linie Sprach-, Kultur- und Lebensräume. Bezeichnenderweise taucht in den Erinnerungen der an der Versailler Friedenskonferenz 1919 beteiligten Diplomaten immer wieder die Relevanz des Kartenmaterials auf. Mit ihm suchten sämtliche Delegationen den Anspruch ihrer Völker auf Selbstbestimmung zu belegen. Die Forderung nach der territorialen Autonomie ethnischer Gruppen, die sich mit vorgeblich eindeutigen Bevölkerungsmehrheiten und geschlossenen Siedlungsstrukturen in einer entsprechenden Region begründet findet, verweist stets auch auf eine zugrunde liegende Homogenitätsvorstellung, nach der "Volk" und "Raum" zueinander gehören. "Fremde" Gruppen, die sich den jeweils konstruierten Zuordnungen nicht fügen, müssen sich demnach entweder mit einem inferioren Status in den markierten Räumen zufriedengeben oder das Land verlassen.

Unter dem Blickwinkel der Bio-Macht verändert sich auch die Auffassung vom Volk als staatlichem Souverän. Wenn sich die Identität des Volkes nicht mehr politisch definiert, wenn es nicht mehr die politische Willensbildung der Staatsbürger ist, die das Volk konstituiert, sondern die Zugehörigkeit des "Blutes", erhalten außerkonstitutionelle Kriterien für die Verfasstheit des Volkes ein erheblich größeres Gewicht.

Verstand sich Gleichheit auf der Folie der Nation in erster Linie als die Gleichheit der bürgerlichen Rechtspersonen vor dem Gesetz, so folgt aus dem Entwurf des Volkes als einer Lebensordnung eigenen Rechts und aus dem Postulat, diese Lebensordnung zu optimieren, eine Biopolitik, deren grundsätzliches Schema strikt nach "lebenswert" und "lebensunwert" unterscheidet. Dass mit den Euthanasiemaßnahmen die Vernichtungspolitik der

Nationalsozialisten begann, ist kein zufälliges Faktum. Das "Blut", nicht das Recht bestimmte das Volk.

Die Konstruktion der Nation als Rechtsordnung wurde abgelöst durch die Konstruktion des Volkes als Lebensordnung. Durch das Aufkommen der Bio-Macht verschoben sich die politischen Ambivalenzen, die dem Konzept der Nation von vornherein innewohnten. demos naturalisierte sich zu ethnos, und die Allgemeinheit der Bevölkerungen als Adressat der Bio-Macht partikularisierte sich zur Optimierung einzelner, rassistisch hierarchisierter Völker. Volkssouveränität als Legitimitätsprinzip moderner politischer Herrschaft erhielt durch den biopolitischen Zusammenhang eine, wie Carl Schmitt es formuliert hatte, biologisierte Grundlage der "Artgleichheit". Es entstanden jene extrem gewalttätigen Konstellationen, die weder durch die völkerrechtliche Regelung von Minoritätenrechten noch durch die Schlichtungskompetenz des Völkerbunds, ja nicht einmal mit herkömmlicher, hegemonialer Assimilierungspolitik, wie sie das 19. Jahrhundert kannte, zu entschärfen waren.

Carl Schmitt hat in seiner 1928 erschienenen "Verfassungslehre" kalt konstatiert, dass in der europäischen staatlichen Wirklichkeit nationale Homogenität nicht vorhanden sei. Zwar gebe es die Möglichkeit friedlicher Assimilation der Minderheiten, aber, so Schmitt wörtlich, eine andere Methode sei "schneller und gewaltsamer", nämlich "Beseitigung des fremden Bestandteils durch Unterdrückung, Aussiedlung der heterogenen Bevölkerungsteile und ähnliche radikale Mittel". Die biologische Definition des Volkes lässt weder Gleichberechtigung noch territoriale Integrität zu, sondern verlangt nach Segregation, Vertreibung und Vernichtung.

Es ist diese Radikalisierung ethnischer Politik in rassistische Biopolitik, die über die Forderung nach ethnischer Homogenität im Nationalstaat hinaus, die immer zwangsweise Assimilation, Vertreibung oder Deportation bedeutet, die massenmörderische, genozidale Konsequenz in sich birgt.