Das christliche Deutschland und die Weltmachtpolitik: Zur Kontroverse zwischen Johannes Lepsius und Friedrich Naumann

Manfred Aschke
2010

Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und derUmgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

I.

Auf dem 11. Evangelisch-sozialen Kongress, der am 7. und 8. Juni 1900 in Karlsruhe stattfand,[1] kam es zu einer Kontroverse zwischen Johannes Lepsius und Friedrich Naumann über die Grundsatzfrage des Verhältnisses von Christentum und Politik.

Der Evangelisch-soziale Kongress[2] war 10 Jahre zuvor von Theologen, Volkswirtschaftlern, Politikern und Juristen gegründet worden. Er stellte sich die Aufgabe, die sozialen Zustände des Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie an dem Maßstab der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbar zu machen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u.a. Adolf Stoecker und Adolf von Harnack. Nachdem in den Jahren 1895 der konservative Flügel um Nathusius und 1896 Stoecker mit einem Teil seinerAnhänger ausgetreten waren, wurde der Evangelisch-soziale Kongress zu einem Forum des liberalen und fortschrittlichen Protestantismus, der mehr den Fragender Sozialethik als der Dogmatik zugewandt war. Generalsekretär des Kongresses war von 1898 – 1902 Paul Rohrbach, der auch die Einladung von Johannes Lepsius alsReferent vermittelte.[3]

Das Thema, das den Referenten des zweiten Kongresstages gestellt war, lautete: „Welche sittlichen und sozialen Aufgaben stellt die Entwicklung Deutschlands zur Weltmacht unserem Volke?“ Lepsius gibt auf die Fragestellung im Wesentlichen die folgende Antwort: Letzten Endes wurzelt der Anspruch Deutschlands auf Weltmacht „in den geistigen und sittlichen Werten unseres Volkes, in der Tatsache, dass wir Deutschen die erstberufenen Träger des Evangeliums in der gegenwärtigen Kultur sind.“[4] Und daraus schließt er: „Wenn wir Deutschen unsere Weltmission erfüllen wollen, so müssen wir Deutsche bleiben und müssen Christen bleiben.“[5] Aus dem Begründungszusammenhang von Christentum und Weltmachtanspruch ergibt sich für Lepsius, dass die Botschaft des Evangeliums auch und gerade für die deutsche Weltmachtpolitik Gültigkeit habe.

Friedrich Naumann lehnt in einem Redebeitrag die von Lepsius unternommene christliche Fundierung der Politik entschieden ab. Er besteht gegenüber Lepsius darauf, dass es in der Außenpolitik um den Kampf zwischen den Völkern um Weltmacht gehe und dass das Christentum dazu nichts zu sagen habe. Naumann hält es für „protestantischer, ehrlicher und einfacher“, den Kampf zwischen den Völkern um Macht als Tatsache anzuerkennen.[6] Er beendet seinen Beitrag mit dem Satz: „Sondern wir werden am besten tun, wenn wir glauben, dass Gott uns eine Aufgabe gibt, und die bedeutet einfach: Du, Volk, das du geworden bist, du habe dich in Zucht und Kraft. Habe dich aber auch nach außen in der nötigen Macht.“[7]

II.

Was steckt dahinter? Bevor es um Einzelheiten der Debatte zwischen Lepsius und Naumann gegen kann, gilt es den aktuellen zeitgeschichtlichen und politischen Kontext und die Rollen von Naumann und Lepsius in diesem Zusammenhang n groben Zügen zu skizzieren.[8]

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich vom Zerfall bedroht. Der Vielvölkerstaat war zentralistisch regiert und beruhte auf einem ausgeklügelten System der politischen, rechtlichen und steuerlichen Ungleichheit zu Lasten der ethnischen Minderheiten. Ständig kam es zu Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen und der staatlichen Verwaltung, die immer wieder auch gewaltsam eskalierten. Das Scheitern von Reformversuchen nach europäischem Vorbild und eine Reihe von Gebietsverlusten in der Folgeverlorener Waffengänge warfen ein düsteres Licht auf die Zukunft des Reiches. Die „orientalische Frage“, in deren Zentrum das Schicksal des Osmanischen Reiches stand, beschäftigte Politik und Öffentlichkeit in Europa über Jahrzehnte. Die Perspektive eines politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches weckte einerseits bei den europäischen Großmächten Gelüste, den „kranken Mann am Bosporus“ zu beerben. Andererseits weckten gerade diese Begehrlichkeiten Sorgen um das empfindliche Machtgleichgewicht zwischen den europäischen Mächten.

Ein wesentlicher Teil der orientalischen Frage war die armenische Frage. Schon in Art. 9 des Pariser Vertrages von 1856, der den Krimkrieg beendete, hatten die europäischen Großmächte den Schutz aller Christen im Osmanischen Reich übernommen. Der Vertrag bestätigte einen Erlass des Sultans, der den muslimischen und christlichen Untertanen seines Reiches gleiche Rechte zusicherte. Aber eine Kontrolle über die Durchführung von Reformen durch die europäischen Großmächte hatte die osmanische Führung kategorisch abgelehnt. Die Durchführung der Reformen blieb vollständig in den Händen des Osmanischen Reiches. Mit Ausnahme des Libanon und Kretas, wo eine weitgehende Autonomie der christlichen Minderheiten erreicht wurde, blieben die Reformversprechungen unerfüllt.

Die Balkankrise von 1875 – 1878 endete mit dem Verlust fast der gesamten europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches. Der russisch-türkische Krieg 1877 – 1878 hatte zur Folge, dass Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro nach jahrhundertelanger osmanischer Herrschaft unabhängig wurden. Das Osmanische Reich verlor Zypern an England und Bosnien Herzegowina an Österreich-Ungarn. Die russische Armee stand im Westen vor den Toren Istanbuls. Im Osten hatte sie in kurzer Zeit mehrere armenische Provinzen erobert. Die Kriegsparteien schlossen am 3. März 1878 den Friedensvertrag von San Stefano. Art. 16 sah vor, dass die armenischen Provinzen durch Russland besetzt werden. Bedingung für den Abzug der russischen Truppen war die Verpflichtung der Hohen Pforte zu unverzüglichen Reformen und Schutzmaßnahmen zugunsten der Armenier. Die anderen europäischen Großmächte, vor allem England, sahen in dieser Entwicklung die Gefahr einer erheblichen Ausdehnung des russischen Machtbereichs, die das europäische Machtgleichgewicht bedrohte.

Auf der Berliner Konferenz 1878, bei der sich das gastgebende Deutschland als „ehrlicher Makler“ ohne eigene Interessen an Einfluss im Nahen Osten präsentierte, wurden die durch den Ausgang der Balkankrise und des russisch-türkischen Kriegs entstandenen Spannungen und Konflikte zwischen den europäischen Großmächten beigelegt. Vor allem auf Drängen Englands wurde Art.16 des Präliminarvertrages von San Stefano durch Art. 61 des Berliner Vertrages abgelöst. Die Hohe Pforte verpflichtete sich weiterhin zu Verbesserungen und Reformen in den von den Armeniern bewohnten Provinzen und zur Gewährung von Schutz für die Armenier gegen Tscherkessen und Kurden. Aber zur praktischen Umsetzung dieser Verpflichtung hatte die Hohe Pforte nur „in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zweck getroffenen Maßregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis zu geben.“ England hatte wenige Wochen vor der Berliner Konferenz den Zypernvertrag mit der Hohen Pforte geschlossen. Als Gegenleistung für die Erlaubnis zur Besetzung Zyperns hatte sich England verpflichtet, dem Sultan die kleinasiatischen Provinzen, insbesondere Armenien, wenn nötig mit Waffen zu garantieren. England und Russland hatten sich damit in der armenischen Frage gegenseitig neutralisiert. Das Ergebnis war eine schwache Schutzgarantie für die Armenier, der es an effektiven Druck- und Kontrollmitteln fehlte.

In der Folge konnte das Osmanische Reich die armenische Frage weitgehend dilatorisch behandeln. Die armenische Frage blieb ein Dauerkonflikt. Es gab keine wirkliche Bereitschaft des Sultans, die Reformen, zu denen sich das Osmanische Reich verpflichtet hatte, durchzuführen. Die europäischen Großmächte konnten die Reformen nicht erzwingen. Ihr diplomatischer Druckbestärkte aber die Reformhoffnungen der Armenier. Als der Druck der europäischen Großmächte immer mehr zunahm, wollten sunnitische Gruppen unter Berufung auf den Sultan, Abdul Hamid II., den Reformprozess vereiteln. Sie organisierten in den Städten und auf dem Lande Massaker, denen in den Jahren 1895 und 1896 mehr als 100.000 Armenier zum Opfer fielen. Die Angreifer organisierten sich meistens in den Moscheen und wurden von den Behörden aktiv oder passivunterstützt.

III.

Noch im Jahr 1895 gelangten die ersten Nachrichten über die Massaker an der armenischen Bevölkerung im Osten und Süden des Osmanischen Reiches nach Deutschland. Diese Berichte wurden in der deutschen Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet. Axel Meissner hat die publizistische Kontroverse um „die Wahrheit über Armenien“ in seiner in diesem Jahr erschienenen Dissertation „Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien“ im Einzelnen rekonstruiert.[9] Zusammenfassend lässt sich feststellen: Teilweise wurden die Berichte über die Massaker an Armeniern, die anfangs vor allem aus englischen Quellen stammten, im Sinne der damals verbreiteten Anglophobie als englische Gräuelpropaganda abgetan. Wo die Berichte ernst genommen wurden, kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Frage, ob es sich tatsächlich um Maßnahmen handelte, die von der Regierung des Osmanischen Reiches veranlasst und systematisch organisiert worden waren, oder ob es sich vielmehr um spontane Ausbrüche des Volkszornes gegen die Armenier oder um legitime Maßnahmen des Staates zur Niederschlagung armenischer Aufstände gehandelt habe. Die Reichsregierung und der überwiegende Teil der deutschen Presse teilten die amtliche türkische Darstellung, dass es sich lediglich um die Niederschlagung einer Revolte gehandelt habe. Anschuldigungen gegen die osmanische Regierung waren unerwünscht. Erwünscht war in Politik undWirtschaft eine enge Partnerschaft mit dem Osmanischen Reich, die es Deutschland künftig ermöglichen sollte, seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss im Nahen Osten in der Konkurrenz mit den anderen europäischen Großmächten allmählich auszuweiten. Die christlichen Aktivitäten der Hilfe für die Armenier stießen vor diesem Hintergrund auf scharfe Kritik. So heißt es in den Hamburger Nachrichten, man werde „den Pastoren, die es für ihre Aufgabe betrachten, die diesseitige Kirchlichkeit für die armenischen terroristischen Mörderbanden einzusetzen, von Staats wegen das Handwerk legen müssen.“[10]

Die „Wahrheit über Armenien“ beschäftigte auch die liberalen protestantischen Kreise in Deutschland. Eine besonders wichtige Rolle spielte hier die von Martin Rade herausgegebene Zeitschrift „Christliche Welt“, die der Diskussion über die armenische Frage und die christliche Hilfsarbeit für die Armenier im Osmanischen Reich breiten Raum gab. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen verschob sich dabei immer mehr auf die Frage, ob Christen sich auf karitative Hilfe für die armenischen Opfer zu beschränken hätten oder ob sie sich auch politisch für die Sache der Armenier einsetzen müssten, ob sie also auch versuchen sollten, auf die Politik der Reichsregierung Einfluss zunehmen.

In diesem hier nur grob skizzierten Kontext – Näheres ist bei Meissner ausführlich dargestellt – stehen Johannes Lepsius und Friedrich Naumann exemplarisch für gegensätzliche Pole der Debatte – und, wie sich zeigen wird, auch des Handelns.

Johannes Lepsius[11] hatte schon im Elternhaus ein lebhaftes Interesse für den Orient entwickelt. Sein Vater war der Ägyptologe Richard Lepsius.[12] Während seiner Tätigkeit als Lehrer und Hilfsgeistlicher in Jerusalem hatte Johannes Lepsius dieses Interesse vertieft. Seit 1887 war Lepsius Pfarrer in Friesdorf bei Wippra im Südharz. Zusammen mit weiteren Amtsbrüdern gründete er 1895 einen Gebetsbund für die Orientmission der Mohammedaner, aus dem 1896 die Deutsche Orient-Mission entstand. Nachdem Lepsius einen diplomatischen Bericht über die Massaker an den Armeniern erhalten hatte, reiste er, als Teppichhändler getarnt, im Mai und Juni 1896 in die Massakergebiete, um sich selbst ein Bild von den Verfolgungen der Armenier zu machen. Ausgestattet mit 9000 Schweizer Franken aus Spenden der süddeutschen Gemeinschaftsbewegung und der Evangelischen Allianz konnte er als Soforthilfe zwei Waisenhäuser in Talas und Urfa gründen, deren Betreuung amerikanische Missionare leiteten. Nach seiner Rückkehr versuchte er umgehend, die deutsche Öffentlichkeit über die Erkenntnisse seiner Reise zu informieren, zunächst in einer Zeitungsserie mit dem Titel „Die Wahrheit über Armenien“. Im August 1896 veröffentlichte er unter dem Titel „Armenien und Europa“ die erste große Dokumentation über die Verfolgung der Armenier, die er mit einem Appell an die Verantwortung der christlichen europäischen Großmächte zur Rettung des armenischen Volkes verbindet. Das Buch wird 1897 in die englische und die französische Sprache übersetzt und findet international große Resonanz. In Deutschland startet Lepsius eine umfangreiche Aufklärungskampagne mit Versammlungen, Vorträgen und Artikeln.

Gleichzeitig geht Lepsius mit aller Kraft daran, Spenden zu sammeln und die Hilfe für die armenischen Opfer zu organisieren. Er übernimmt die Aufgabe des Sekretärs des Berliner Komitees des armenischen Hilfswerks, das mit dem Frankfurter Komitee unter dem Vorsitz des Pfarrers Ernst Lohmann zusammenarbeitet. Es entstehen Waisenhäuser, ärztliche Stationen, Schulen und Betriebe in Kleinasien, im Osmanischen Reich, in Bulgarien, in Persien und in Russland. Lepsius verlegt die Teppichmanufaktur, die er in Friesdorf errichtet hatte, um dort Arbeitsplätze zu schaffen, nach Urfa.

Kann man, zumal als Christ, etwas gegen die Öffentlichkeitsarbeit und die Hilfstätigkeit zugunsten der verfolgten Armenier einwenden? Man konnte, und einer der einflussreichsten Kritiker war Friedrich Naumann.

Friedrich Naumann[13] war wie Lepsius Pfarrer. Er war zunächst Anhänger der christlich-sozialen Bewegung um den Hofprediger Adolf Stoecker. Eine sozial gerechte Gestaltung der Gesellschaft galt ihm auch als Herausforderung für das Christentum, das die Arbeiterschaft zu großen Teilen an die Sozialdemokratie verloren hatte. Das Jahr 1896 war für Naumann ein Wendepunkt. Unter dem Einfluss von Max Weber wurde er zu einem der wichtigsten politischen und publizistischen Repräsentanten des „liberalen Imperialismus“. Er gründete den „National-sozialen Verein“, der ausdrücklich das Ziel verfolgte, die breiten Massen auch der Arbeiterschaft für eine deutsche Weltpolitik zu gewinnen. Soziale und politische Reformen sollten in einem Bündnis von Demokratie und Monarchie erreicht werden. Zwar blieb der National-soziale Verein, wie Wolfgang Mommsen schreibt, in den wenigen Jahren seines Bestehens eine Art geistiger Generalstab der Gebildeten, dem es nie gelang, in die Arbeiterschaft einzudringen.[14] Aber in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Hilfe“ gab Naumann auch weiterhin dem imperialistischen Denken breiten Raum. Neben Naumann sind vor allem Paul Rohrbach und Ernst Jäckh zu nennen, die „eigentlichen Propagandisten“ des „liberalen Imperialismus“[15], wobei Jäckh eine expansive deutsche Orientpolitik propagierte und damit eigentlich schon im Lager der Nationalliberalen stand.

Wenn man sich die Grundzüge des klassischen Liberalismus vor Augen hält, vor allem das liberale Ideal der Begrenzung staatlicher Macht als Bedingung bürgerlicher Freiheit, fragt man sich aus heutiger Sicht unwillkürlich, wie Liberalismus und Imperialismus überhaupt zusammenpassen. Das wäre ein eigenes Thema. Ich muss mich hier auf wenige Schlaglichter beschränken.

Im internationalen Vergleich betrachtet hat sich der deutsche Liberalismus dem Imperialismus in besonderem Maße verschrieben. Wo liegen die Gründe? Wolfgang Mommsen[16] weist auf mehrere Faktorenhin. Zunächst spielt eine Rolle, dass die liberalen Ideen in Deutschland immer schon nur eine schwache Verankerung hatten. Schon in den Anfängen seiner Entwicklung akzentuierte der deutsche Liberalismus den Gedanken der Autonomie des Individuums und der Selbstverwaltung, nicht aber das Prinzip der Selbstregierung der Bürger. Mit der Idee der Volkssouveränität wollte er im Grunde nichts zu tun haben. Es kommt hinzu, dass auch die Idee des Freihandels in der deutschen liberalen Bewegung nicht sonderlich tiefe Wurzeln gefasst hat. Anders als in England hatte es in Deutschland unter der Ägide des Freihandels keine lange Periode raschen wirtschaftlichen Wachstums gegeben, so dass sich die Idee, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem grundsätzlich kosmopolitisch und auf freien Austausch im internationalen Rahmen ausgerichtet sein müsse, nicht tiefeingegraben hatte. Weiter kommt hinzu, dass die spezifische Verbindung zwischen dem deutschen Liberalismus und der nationalen Idee die Bereitschaft geschaffen hatte, liberale Grundprinzipien ganz oder teilweise zu opfern, sofern und soweit diese mit nationalen Interessen in Widerstreit gerieten.

Der schwachen Verankerung des spezifisch liberalen Denkens im politischen Bewusstsein der Deutschen entsprach der soziologische Befund der geringen Geschlossenheit des Bürgertums. Die Rede von „Bildung und Besitz“ ist ein Hinweis darauf, dass das deutsche Bürgertum nie ein wirklich einheitliches Ethos entwickelt hat. Dafür war entscheidend, dass die liberalen Ideen in Deutschland erst zum Durchbruch kamen, als das Bürgertum bereits den Verwerfungen der pluralistischen Industriegesellschaft mit stark differenzierten Einkommen ausgesetzt war.

Auch auf politischer Ebene fehlte es dem Liberalismus an Einheitlichkeit. Spätestens seit der Revolution von 1848/49 bildete dieZersplitterung der liberalen Kräfte eine Konstante der deutschen Entwicklung. Zudem wurde die Chance, die Arbeiterschaft durch angemessene Mitvertretung ihrer Interessen von Anfang an in das eigene Lager zu ziehen, gründlich verspielt.

Vor dem Hintergrund der Zersplitterung des Liberalismus, der keine überzeugenden Antworten auf die soziale Frage und auf die neuen Herausforderungen der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur zu bieten hatte, erschien die Idee einer kraftvollen deutschen Weltpolitik nach englischem Vorbild für Naumann und den liberalen Imperialismus auch als Chance zur Erneuerung der liberalen Bewegung. In einer erfolgreichen Expansionspolitik nach Übersee sah man eine wesentliche Voraussetzung für eine fortschrittliche Verfassungs- und Gesellschaftspolitik, zumal der „Nahrungsspielraum“ der breiten Massen davon abhängig zu sein schien. Eine durchgreifende Modernisierung der Gesellschafts- und Verfassungsordnung schien schon deshalb erforderlich, weil eine großangelegte Weltpolitik sich nicht mit den traditionellen Eliten durchführen lasse und nur dann erfolgreich sein könne, wenn sie im Ernstfall auf die Unterstützung der breiten Schichten der Nation zählen könne. Durch eine Weltpolitik sollten schließlich die ökonomischen Voraussetzungen für eine dauerhafte Integration der Arbeiterschaft geschaffen werden.

Das imperialistische Denken erfasste seit 1896 nach und nach fast die gesamte liberale Bewegung und fegte die Gegenkräfte weitgehend beiseite. Eine der Grundannahmen, von denen der liberale Imperialismus ebenso wie die Nationalliberalen ausgingen, war die Vorstellung, dass in der kommenden Periode der Weltgeschichte nur diejenigen Nationen, die sich zu Weltreichen erweitern, noch eine selbstständige Stellung würden behaupten können. Insofern erschien die Weltmachtpolitik nur als zwingende Fortsetzung der nationalen Politik im Zeitalter des Weltstaatensystems.

IV.

Wie hat Friedrich Naumann auf die armenische Frage reagiert, und wie hat er insbesondere auf die christlichen Hilfsprogramme für die Armenier reagiert?[17] Naumann begleitete im Jahr 1898 Kaiser Wilhelm II, von dem er sich die Verbindung von Weltpolitik und fortschrittlicher Gesellschaftsreform erhoffte, auf dessen Reise in den NahenOsten.[18] In einem seiner Reisebriefe, die er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Hilfe“ veröffentlichte, gab er ohne eigenen Kommentar das Urteil eines deutschen Töpfermeisters in Konstantinopel wieder. „Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben Recht getan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor den Armeniern nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das unverantwortlichste ausgenutzt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt.“19 Das löste ein starkes Echo in der deutschen, aber auch der französischen Presse aus. Besonders heftig war die Kritik in der von Martin Rade herausgegebenen „Christlichen Welt“. Dies veranlasste Naumann, sich in der Christlichen Welt gegen die Kritik zu verteidigen.[19] Er stellt zunächst klar, die in seinem Reisebrief wiedergegebene Meinungsäußerung decke sich nicht völlig mit seinem eigenen Standpunkt. Er habe nur als neutraler Journalist das Spektrum der Standpunkte wiedergegeben. Naumann gesteht dann zu, dass den Hamidischen Massakern 80.000 bis 100.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Angesichts dessen könne es überhaupt nur ein Urteil geben, nämlich eine volle, zornige, heftige Verurteilung der Mörder und ihrer Anstifter. Andererseits zeigt Naumann aber Verständnis für die Notwehr der Türken und sieht die Armenische Frage in erster Linie als eine innertürkische politische Angelegenheit an, als „ein Stück vom Todeskampfe eines alten großen Reiches, das sich nicht ohne letzte blutige Rettungsversuche will töten lassen.“[20] In der Analyse der außenpolitischen Implikationen des Verhältnisses zwischen Türken und Armeniern im Osmanischen Reiches schreibt Naumann: Wer das Osmanische Reich zerstören will, unterstütze zu diesem Zweck die Griechen, Serben, Bulgaren, Mazedonier, Syrer,Armenier. Das Verfahren sei das folgende: „Man fordert für die abhängigen Völkerschaften Menschenrechte oder Humanität oder Zivilisation oder politische Freiheit, kurz, irgendetwas, das sie den Türken gleichstellt.“ Solche Forderungen führten zu „revolutionären Wirkungen“. Sie förderten den Separatismus der nationalen Minderheiten und gäben den europäischen Großmächten einen Hebel zur Auflösung des Osmanischen Reiches an die Hand. Die Hohe Pforte müsse zwar unter diplomatischem Druck den Reformplänen der europäischen Mächte zustimmen. Aber: „Sobald die Türkei wieder Luft genug hat zum Atmen, muss ihrSelbsterhaltungstrieb sie veranlassen, das abgezwungene Versprechen abzuschütteln. (...) Es war Gefahr, dass die Türkei an der armenischen Frage zugrunde ging. Da half sie sich mit einem barbarischen, asiatischen Gewaltstreich: sie dezimierte die Armenier so stark, dass sie in nächster Periode nicht politisch auftreten können.“

Vor diesem Hintergrund könne man auch als Christ schwankend werden, wie man stehen soll. Naumann gibt zu bedenken, dass Sympathiekundgebungen für die Armenier indirekt zur Todesursache geworden seien. Vor allem aber wendet er gegen das Eintreten für die Armenier ein, dass dadurch die Politik der deutschen Regierung konterkariert werde. Unsere Politik im Orient sei auf lange hinaus festgelegt, wir gehörten zur Gruppe der Protektoren der Türkei. Deutschland könne in seinem jetzigen Kräftebestand noch keine Politik nach Art der Engländer betreiben. Die Engländer könnten revolutionieren, denn sie seien imstande zu okkupieren. Wir bräuchten Zeit zum Wachsen und Werden. Diese unsere Zeit zu erkennen und abzuwarten, sei in seiner Art auch ein Stück, den Willen Gottes zu erfüllen.

Tatsächlich war das Interesse Deutschlands an politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Osmanischen Reich längst stark gewachsen. Die Reise Kaiser Wilhelms II. war auch ein Ausdruck dieses Interesses. Die deutsche Politik hielt zwar daran fest, dass Deutschland keine eigenen Interessenverfolgte. Aber Deutschland bot sich als Schutzmacht an. In Damaskus erklärte sich Wilhelm II. zum Schutzherrn aller Muslime. Gleichwohl beflügelten die Vorstellungen, dass deutsche Unternehmen eine führende Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung und Modernisierung der Türkei spielen könnten und dass die Türkei langfristig ein Raum der Erweiterung deutschen Einflusses und deutscher Weltmacht sein könnte, die Fantasien. Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege war das Projekt der Bagdadbahn, für das die Verträge während der Reise Wilhelms II. unterschrieben wurden. Naumann knüpft an diese Interessenlage an.

In der Buchausgabe seines Reiseberichts[21] fügt Naumann eine scharfe Kritik am christlichen Deutschland an. Niemand werde es den eifrigen Christen verwehren wollen, gleichsam die Opfer unter dem Rad zu verbinden. „Nur ist zu verlangen, dass die Liebestaten niemals zu politischen Handlungen werden, die unsere deutsche Staatspolitik durchkreuzen. Wir sind der festen Überzeugung, dass unser Volk auch dem Christentum am besten dient, wenn es sich selber im Völkerkampfe stark erhält.“[22] Wer international sei, der solle die englische Politik unterstützen und den Armeniern helfen. Wer national sei, der müsse in der äußeren Politik auBismarcks Pfaden bleiben.

 

V.

Der 11. Evangelisch-soziale Kongress am 7. und 8. Juni 1900 in Karlsruhe bot Lepsius ein Forum, um seine praktische Hilfsarbeit, aber auch sein politisches Eintreten für die Armenier zu begründen. Und Friedrich Naumann nahm seinerseits die Gelegenheit zur Rechtfertigung seiner Kritik an der christlichen Armenierhilfe wahr.

Lepsius konzentriert sich ganz auf die Grundfrage des Verhältnisses von Christentum und Politik. Haben Religion, Christentum und Evangelium für die großen Probleme der inneren und äußeren Politik ein sachliches Verständnis, fragt er, und er stellt fest, die mannigfachen Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Politik hätten fast auf der ganzen Linie zu dem Ergebnis geführt, dass weder den Pfarrer noch den Christenmenschen die Politik etwas angeht. Und mit Blick auf die „christlich-soziale“ Bewegung diagnostiziert er, dass selbst deren Führer meinten, das Panier „evangelisch-sozial“ verlassen zu müssen und mit den neuen Losungen „kirchlich-sozial“ und „national-sozial“ – eine unmissverständliche Anspielung auf Naumann, der sich dagegen heftig wehren wird – prinzipiell andere Wege zu gehen. Lepsius wirft diesen Richtungen vor, die alte Fährte des Evangelisch-sozialen Kongresses verlassen zu haben, der den christlichen Ideen einen unmittelbaren, von kirchlichem und politischen Parteigeist unberührten Einfluss auf die öffentliche Meinung und dadurch auch auf die Politik verschaffen wollte. Lepsius kritisiert, dass das Christentum immer mehr aus dem öffentlichen Leben in das Haus, in die Kinderstube und in die weibliche Daseinssphäre verwiesen werde. „Praktisches Christentum treiben heißt:“, so Lepsius, „ die Wunden, die der Kampf ums Dasein dem einzelnen oder ganzen Volksklassen von Menschen geschlagen hat, verbinden und heilen, nicht aber den Kampf selbst aufnehmen, leiten und zum Siege führen. Das Christentum ist und bleibt die barmherzige Schwester auf dem Schlachtfelde. Vor dem Anblick des Kampfes selbst aber verhüllt es sein Antlitz und wagt nicht, in „den Kampf von Mächten um die Gewinnung von Rechten“ einzutreten.[23]

Lepsius setzt dieser auf eine barmherzige Hilfs- und Tröstungsrolle beschränkten Auffassung des Christentums seine Auffassung des Evangeliums als „die leitende Macht in der Geschichte“ entgegen. Das Christentum ist für ihn die organisierende Kraft der Volks- und Staatenbildung. Das gilt für ihn insbesondere im Blick auf die damals aktuelle Phase der Entwicklung der Weltpolitik. Lepsius entwirft die Grundzüge einer Geschichtsphilosophie, der zufolge der Sinn der neueren Geschichte in der allmählichen Durchsetzung christlicher Ideen, in der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden liegt. Die angelsächsischen Inspirationsquellen dieses Denkens hat Hans-Lukas Kieser erhellt.[24]

Nicht das Nationalitätsprinzip und nicht die Rassengegensätze sind für Lepsius die treibenden Kräfte der Geschichte. Sondern: „Wir stehen daher jetzt schon vor der Tatsache, dass nur eine geringe Zahl von Mächten einen bestimmenden Einfluss auf die Geschicke der Völker ausübt, und dass diese wenigen Mächte sämtlich christliche und drei von ihnen germanische und protestantische sind, England, Deutschland und die Vereinigten Staaten. Diese Tatsache kann nicht eine zufällige sein. Beweist sie nicht, dass schon jetzt das Christentum die mächtigste Weltstaaten-bildende Potenz ist?“[25] Und weiter schreibt Lepsius: „Die Ursache, welche dem Protestantismus den Löwenanteil an der Weltbeherrschung und den christlichen Weltmächten die Herrschaft über die Weltverschafft hat, liegt eben im Christentum, im Evangelium selbst. Die Weltgeschichte ist seit zwei Jahrtausenden die Geschichte der Herrschaft Christi über die Erde. Das Reich Gottes hat eine politische Geschichte. Denn „Reich Gottes“ ist nicht nur ein religiöser, sondern ebenso sehr ein politischer Begriff. Das Ziel der Weltmachtpolitik, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, ist die Herrschaft Christi über den Erdkreis. Und obwohl die Apostel die Aufrichtung des Reiches Christi erst von der Wiederkunft ihres Meisters erwartet haben, so lehren doch die Gleichnisse Christi vom Königreich Gottes, dass Jesus selbst eine evolutionistische Auffassung von dem Wachstum dieses Reiches gehabt hat.“[26] Lepsius zieht daraus die Folgerung: „Nicht die nationale Idee, nicht die Rasse, nicht wirtschaftliche Notwendigkeiten, sondern allein die Expansionskraft der christlichen Kultur begründen das Recht auf Weltherrschaft.“[27] Der Weltmachtanspruch Deutschlands findet nach Lepsius seinen Grund darin, dass die Deutschen, das Volk der Reformation, es am besten verstanden hätten, ihre inneren Aufgaben, ihre christlichen Ideen und Werte, mit den Aufgaben der Gestaltung der Außenwelt zu verbinden.

In der Aussprache über die Referate übt Friedrich Naumann scharfe Kritik an Lepsius. Zunächst erhebt er „persönlichen Protest“ dagegen, dass die Vertretung einer speziellen national-sozialen Politik vom Evangelisch-sozialen Kongress irgendwie entfernen oder entfremden solle.[28] Und dann formuliert Naumann den Kern seines Widerspruchs gegen Lepsius: „In Bezug auf die äußere Politik haben wir heute einen Versuch gehört, die auswärtige Politik mit einer Art christlicher Fundamentierung sozusagen aus dem Evangelium zu entwickeln; und ich muss gestehen, nachdem ich diesen Versuch gehört habe, glaube ich, dass auf diese Weise weder dem Evangelium noch der äußeren Politik irgendwelcher Dienst geleistet werden kann. Es existieren ja Schwierigkeiten hier, die äußerst groß dadurch sind, dass unsere jetzige politische Periode eine Periode kämpfender Nationen ist. Zugegeben, dass nicht jede Nation kampffähig ist, zugegeben, dass wir uns Fremde angliedern müssen, immerhin ist heute der Kampf das Prinzip in der Politik der großen auf Nationen gegründeten Staatskörper.“ Auch Naumann bemüht gegen den Versuch einer christlichen Fundierung der Weltmachtpolitik eine Interpretation der Geschichte, die von einer Art Internationalismus im Römertum zur Zeit Jesu und von der unter dem Katholizismus vereinigten Völkerfamilie zur nationalen Entwicklung fortgeschritten sei. Als die Evangelien geschrieben worden sind, habe es eine derartige nationale Politik überhaupt nicht geben können. Auch wenn man bei Jesus und Paulus etliche Stellen finde, in denen eine gewisse Liebe zum Volk angesprochen werde, so bleibe doch der Machtgedanke und der Selbsterhaltungstrieb eines einzelnen Stammes, einer Rasse, eines Teils der Menschheit dem Neuen Testament fremd. Ohne diesen Gedanken könne man aber die auswärtige Politik nicht begreifen und begründen. Vor diesem Hintergrund verwirft Naumann den Begriff des Reiches Gottes als politischen Begriff. Und er kritisiert eine Unehrlichkeit des Denkens, die darin liege, Machtpolitik zu betreiben, aber wie die Engländer zu behaupten, dies geschehe im Dienst der Humanität und des Christentums. „Besser als die Engländer sind wir nicht,“ sagt Naumann, „wir wollen so gut auf der Erdkarte haben, was wir haben können, wie sie es wollen.“ (...) „Nur sollen wir nicht sagen, dass das Prinzip, das uns treibt, die Herrichtung des Reiches Gottes auf Erden ist.“[29] Naumann fragt deshalb, ob es nicht „protestantischer, ehrlicher und einfacher“ sei zu sagen, es sind Kämpfe und als solche wollen wir sie anerkennen. Man könne gewiss einen Machtkampf anerkennen und brauche sich dabei „der Ethik nicht zu entkleiden.“ Und weiter „Es handelt sich zunächst nur darum, dass das, was wirklich die Grundlage ist, der natürliche Kampf ums Dasein unter den Völkern, als solches auch wirklich anerkannt und ausgesprochen wird.“[30] Naumann schließt seinen Beitrag mit dem eingangs zitierten Satz, dass Gott dem Volk die Aufgabe gegeben habe, sich auch nach außen in der nötigen Macht zuhalten.[31]

 

VI.

In seinem Schlusswort sagt Lepsius zur Kritik Naumanns: „Ich komme von meinen Voraussetzungen, von meinem Verständnis des Christentums, genau zu dem selben praktischen Resultat wie er, und ich würde, wenn ich die Aufgabe hätte, Politik zu betreiben, in der auswärtigen Politik sicher, in der inneren Politik wahrscheinlich den Pfaden Naumanns folgen. Unsere Differenz liegt nicht im Verständnis des Wesens und der Methode der Politik, sondern im Verständnisdes Christentums.“ Als aber in den Jahren ab 1915 der Völkermord an den Armeniern stattfindet, dem mindestens 1 Million, wahrscheinlich aber 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fallen, verhalten sich Lepsius und Naumann wiederum gegensätzlich. Lepsius verschickt 1916 unter bewusster Missachtung des Willens der Reichsregierung und unter Umgehung der Militärzensur seinen „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“. Naumann dagegen schweigt – ja er, ein führender Vertreter des Linksliberalismus und des Kulturprotestantismus, vollzieht an der Stelle, an der der Völkermord begonnen hatte, ostentativ den Schulterschluss mit dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“, das für den Völkermord verantwortlich ist. Bei der Grundsteinlegung des von der Türkisch-deutschen Vereinigung getragenen „Hauses der Freundschaft“ am 28. April 1917 hält Naumann im Festsaal des Galatasaray-Lyzeums in Pera einen Festvortrag zu dem Thema: „Einheit und Fortschritt, unsere gemeinsame Losung“.[32] Während des ganzen Krieges bleibt Naumann bei seiner Haltung in der Armenischen Frage.

Aber welche Rolle spielen die unterschiedlichen gedanklichen Konzepte des Verhältnisses von Religion und Politik bei Lepsius und Naumann für ihr konkretes Verhalten in der armenischen Frage? Es spricht vieles dafür, dass die individuelle Reaktion von Menschen auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zuerst ein starkes und universelles Gefühl ist. Auf der Grundlage der universellen Fähigkeit des Menschen zur Empathie, zum Mitleiden, erwächst ein moralisches Gefühl, das zwingend Hilfe für die Opfer und Vorsorge gegen die Gefahr einer Wiederholung gebietet. Im Zusammenhang mit der Frage nach der universellen Geltung der Menschenrechte weist der Soziologe Nathan Sznaider darauf hin, dass der universelle Geltungsanspruch der Menschenrechte auf diesem universellen moralischen Gefühl der Abwehr von Inhumanität beruht.[33] Menschenrechte haben in diesem Sinne eine „negative“ Begründung, sie werden nur verständlich im Kontext der konkreten geschichtlichen Erfahrungen der Unmenschlichkeit, auf die sie reagieren. Das gilt auch für den Begriff der Menschenwürde. Was Menschenwürde bedeutet, lässt sich nicht aus universell geteilten religiösen oder weltanschaulichen Systemen ableiten, auch nicht aus dem Rechtssystem. Wir wissen aber aus geschichtlicher Erfahrung verhältnismäßig gut, was universell als Missachtung der Menschenwürde empfunden wird.

Auch Friedrich Naumann bekennt, dass er zunächst dieses klare moralische Gefühl empfindet, wenn er schreibt, angesichts der Massaker an den Armeniern könne es überhaupt nur ein Urteil geben, nämlich eine volle, zornige, heftige Verurteilung der Mörder und ihrer Anstifter.[34] Aber die Übersteigerung der nationalen Idee zur Idee der Weltmacht und die Verabsolutierung nationaler Interessen führen bei Naumann letzten Endes dazu, dass er diesen moralischen Impuls unterdrückt und nationale Weltmachtinteressen von jeder ethischen Bindung freistellt. Das ist natürlich nur eine Facette des Politikers Naumann, aber es bleibt eine dunkle Seite.

Bei Lepsius scheint dagegen die von ihm unternommene christliche Fundierung der Weltpolitik den moralischen Impuls des Mitleidens und des Helfens zu verstärken und mit zusätzlicher Handlungsenergie auszustatten. Lepsius hat mit seinem unermüdlichen Einsatz für die Information der Öffentlichkeit über die Verfolgung der Armenier und mit seinem Hilfswerk in einer Zeit der grenzenlosen Übersteigerung des Weltmachtdenkens in Deutschland ein eindrucksvolles und zu seiner Zeit bei den bürgerlichen Eliten selten anzutreffendes Beispiel für Zivilcourage gegeben. Das bleibt.

Das politische Konzept der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, bei der die Deutschen eine bevorzugte Aufgabe haben, ist dagegen heute, im Bewusstsein der Erfahrungen der beiden Weltkriege, der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus und vor allem der Vernichtung der deutschen und europäischen Juden, in dieser Form nicht mehr anschlussfähig, weder im Dialog der Religionen noch im politischen Diskurs. Die Idee einer besonderen Berufung Deutschlands zur Gestaltung der Welt hat sich gründlich erledigt. Sie hat an ihrer Widerlegung selbst mitgewirkt. Unter dem Großmachtdenken liegt aber bei Lepsius der allgemeinere Gedanke, dass das Christentum die Menschen zur Gestaltung oder doch Mitgestaltung der Welt nach dem Evangelium aufruft. Wenn ich es richtig sehe, entspricht dies heute nicht weniger, sondern eher noch verbreiteter als zur Zeit von Lepsius dem Selbstverständnis des protestantischen Christentums. Damit erhebt das Christentum, im Grundsatz nicht anders als die anderen großen monotheistischen Religionen des Judentums und des Islam, einen universellen Geltungsanspruch. Das führt für alle monotheistischen Religionen zu einer Gratwanderung. Christen müssen sich heute in einer säkularen, religiös und weltanschaulich pluralistischen und globalisierten Welt orientieren. Das erfordert unabweisbar den wechselseitigen Respekt der Religionen und ihr vertrauensvolles Zusammenwirken bei der Gestaltung des lokalen, regionalen und globalen Zusammenlebens der Menschen. Und das fordert die Anerkennung der säkularen Institutionen der Politik und des Rechts auf allen Ebenen des Gemeinwesens, von der Kommune bis zu den Vereinten Nationen. Denn nur die säkularen Institutionen können kraft ihrer Neutralität und Distanz in einer multireligiösen Gesellschaft die verbindlichen Entscheidungen treffen, die von allen akzeptiert werden müssen.

Deshalb stellt sich die Frage des Verhältnisses von Religion und Politik heute nicht weniger dringlich als sie sich zur Zeit von Lepsius und Naumann beispielhaft in der armenischen Frage gestellt hat. Hat Naumann nicht doch recht, wenn er darauf besteht, dass es in der Politik um Macht gehe und dass die Religion dazu nichts zu sagen habe. Die Gesellschaftstheorie würde jedenfalls dem ersten Teil dieses Satzes zustimmen. Sie sieht die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme oder Wertsphären als ein prägendes Merkmal der modernen Gesellschaft an. Eine religiöse Fundierung der Politiker scheint uns denn auch nicht wünschenswert.

Lepsius hat aber wohl auch nicht bestreiten wollen, dass die Politik eigenen Kriterien folgt. Und er hatte gewiss keine Priesterherrschaft vor Augen. In seinem Referat beschreibt Lepsius „die alte Fährte dieses Kongresses“ – des Evangelisch-sozialen Kongresses - mit den Worten, er wolle „den christlichen Ideen einen unmittelbaren, von kirchlichem und politischem Parteigeist unberührten Einfluss auf die öffentliche Meinung und dadurch auf die Politik verschaffen“.[35] Auch wenn ein gewisser Affekt gegen kirchliche Institutionen und politische Parteien bei Lepsius nicht zu verkennen ist, zeigt diese Passage doch, wie sich Lepsius das Verfahren der Einwirkung des Christentums auf die Politik vorstellt: Einfluss auf die Politik über die öffentliche Meinung. Das ist durchaus ein modernes Konzept. Für die parlamentarische Demokratie ist es sogar ein grundlegendes Konzept. In der Demokratie ist der Wille des Volkes keine metaphysische, vorgegebene Einheit. Er ist erst das Resultat eines lebendigen, offenen und kontroversen Prozesses der Meinungs- und Mehrheitsbildung. Die Politik lebt in der parlamentarischen Demokratie geradezu davon, dass aus allen Teilen der Gesellschaft Anregungen, Meinungsäußerungen und Willensäußerungen an sie herausgetragen werden. Das ist auch der Weg, auf dem Christen die Maßstäbe christlicher Ethik bei politischen Entscheidungen zur Geltung bringen können. Und in der parlamentarischen Demokratie kann dann auch keine Rede mehr davon sein, dass Christen zu Machtfragen in der Außenpolitik nichts zu sagen hätten.


[1] Die Verhandlungen des Elften Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Karlsruhe am 7. und 8.Juni 1900, nach den stenographischen Protokollen, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1900; im Folgenden zitiert: Protokoll

[2] Dazu Klaus Erich Pollmann, Evangelisch-sozialer Kongreß, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, 1982,S. 645 ff. m.w.N.; ders., Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Rüdiger vom Bruch, Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000,S. 49 ff.; Kurt Nowak, Sozialpolitik als Kulturauftrag. Adolf von Harnack und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth(Hrsg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart u.a. 1997, S. 79 ff.; Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890 – 1930: eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004, S. 189ff.; Gottfried Kretschmar, Der Evangelisch-soziale Kongreß, Stuttgart 1972; Paul Göhre, die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele, Leipzig 1896

[3]Hans-Walter Schmuhl, Friedrich Naumann und die Armenische Frage. Die deutsche Öffentlichkeit und die Verfolgung derArmenier von 1915, ADK 2005, , S. 16 ff., 21

[4]Protokoll (Anmerkung 1) S. 151

[5]Protokoll (Anmerkung 1) S. 156

[6]Protokoll (Anmerkung 1) S. 180

[7]Protokoll (Anmerkung 1) S. 181

[8] Die folgende Skizze stütztsich auf die ausführliche Darstellung bei Axel Meissner, Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin 2010, S. 18 ff. m.w.N.

[9]Axel Meissner (siehe Anmerkung 8), S. 51 ff.

[10]Zitiert nach Meissner (Anmerkung 8), S. 112 (Fußnote 479)

[11] Eine Biographie von Johannes Lepsius, die die komplexen zeitgeschichtlichen und theologischen Kontexte seines Wirkens ausleuchtet, ist nach wie vor ein Desiderat. Einen biographischen Rahmen enthält die Dissertation von Andreas Baumann, Der Orient für Christus. Johannes Lepsius – Biographie und Missiologie, Gießen 2007, S. 20ff.; Beiträge zur Biographie finden sich u.a. bei Hermann Goltz, Zwischen Deutschland und Armenien. Zum 125. Geburtstag des evangelischen Theologen Dr.Johannes Lepsius (15.12.1958 – 3.2.1926), Theologische Literaturzeitung 1983,S. 865 ff.; M. Rainer Lepsius, Johannes Lepsius – Biographische Skizze, in: Deutschland und Armenien 1914 – 1918 (Reprint), Bremen 1986, S. 543; ders, Johannes Lepsius: Die Formung seiner Persönlichkeit in der Jugend- und Studienzeit, in: Akten des Internationalen Dr.-Johannes-Lepsius-Symposiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hrsg. von Hermann Goltz, Halle1987, S. 72 ff. Vielfältige Bezüge zur Biographie von Johannes Lepsius finden sich auch bei Axel Meissner (Anmerkung 8).

[12]Hartmut Mehlitz, Richard Lepsius. Ägypten und die Ordnung der Wissenschaft, Berlin 2010

[13]Aus der Fülle der Literatur über Friedrich Naumann vgl. Rüdiger vom Bruch, Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000; Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik: Friedrich Naumann im wilhelminischen Deutschland, Baden-Baden 1983; Andreas Lindt, Friedrich Naumann und Max Weber: Theologie und Soziologie im wilhelminischen Deutschland, München 1973; , Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895 – 1903), in: Walter Hubatsch (Hrsg.),Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten 150 Jahre. Festschrift für Siegfried A. Kaehler, Düsseldorf 1950

[14] Wolfgang J. Mommsen, Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: KarlHoll/Günther List(Hrsg.), Liberalismus und imperialistischer Staat. Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1890 – 1914, Göttingen 1975, S. 109ff., 117

[15]Wolfgang J. Mommsen (Anmerkung 14), S. 130

[16]s. Anmerkung 14

[17]Zum Folgenden Hans-Walter Schmuhl (Anmerkung 3), S. 15 ff.

[18] Zu dieser Reise KlausJaschinski/Julius Waldschmidt (Hrsg.), Des Keisers Reise in den Orient 1898, Berlin 2002

19 Friedrich Naumann, Hinter Konstantinopel, in: DieHilfe, 4. Jg., Nr. 45 vom 6.11.1898, S. 7

[19]Friedrich Naumann, Zur Armenierfrage, in: Christliche Welt, 12. Jg., Nr. 50 vom15.12.1898, Sp. 1185 - 1188

[20] Friedrich Naumann,a.a.O., Sp. 1186

[21]Friedrich Naumann, Asia, Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret,Jeerusalem, Kairo, Neapel, 6. Aufl,, Berlin-Schöneberg 1907

[22] Friedrich Naumann,a.a.O., S. 141

[23]Protokoll S. 150

[24]Hans-Lukas Kieser, Zion – Armenien – Deutschland. Johannes Lepsius und die „protestantische Internationale“ in der spätosmanischen Welt, ADK 2009, S. 15 ff.

[25]Protokoll S. 152 f.

[26]Protokoll S. 153 f.

[27]Protokoll S. 154

[28] Protokoll S. 176

[29]Protokoll S. 179

[30]Protokoll S. 180

[31] Protokoll S. 181

[32]Walter Schmuhl, a.a.O., S. 20 m.w.N.

[33] Natan Sznaider, Das moralische Gefühl. Poetische Sprache, sakrale Macht und das Leiden der anderen: Für eine negative Begründung der Menschenrechte, Frankfurter Rundschau vom 10.November 2010, S. 32 - 33

[34]Friedrich Naumann, Zur Armenierfrage, in: Christliche Welt, 12. Jg., Nr. 50 vom15.12.1898, Sp. 1185 ff., 1186

[35]Protokoll S. 148