Johannes Lepsius und Kurt Hahn

M. Rainer Lepsius
2010

Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

Johannes Lepsius war ein politischer Mensch. Sein Einsatz für die Armenier war immer auch eine politische Arbeit. Unabhängig von seinem Engagement in der armenischen Frage hatte Johannes Lepsius eindeutige politische Einstellungen. Diese kommen klar zum Ausdruck in seiner Zusammenarbeit mit Kurt Hahn von 1916 bis 1922. Dieser soll im Folgenden nachgegangen werden.

Der Beziehung von Johannes Lepsius und Kurt Hahn waren die engen Kontakte zwischen Reinhold und Sabine Lepsius, seinem Bruder und seiner Schwägerin, mit den Eltern von Kurt Hahn vorausgegangen. Reinhold hatte 1891 ein Porträt von Albert Hahn, dem Gründer der Hahn’schen Röhrenwerke und Großvater von Kurt Hahn, und der Mutter von Kurt Hahn, Charlotte Hahn, geb. Landau, gemalt. Sabine porträtierte ebenfalls die Mutter, Charlotte Hahn,

1895, den Bruder, Rudo Hahn, dessen Frau, Lola Hahn, geb. Warburg (1928), und deren Kind, Oskar Hahn (1932), sowie die Töchter des anderen Bruders, Franz Hahn und dessen Frau, Beate Hahn, geb. Jastrow, Cornelie und Charlotte Hahn (1932), deren Bild jetzt im Jüdischen Museum in Berlin ausgestellt ist, und den Vater von Beate Hahn, Ignaz Jastrow (1926).

Diese Angaben zeigen die langandauernde und enge Verbundenheit insbesondere von Sabine Lepsius zur Familie Hahn. In ihren Memoiren bezeichnet sie Charlotte Hahn als „unsere geliebte Freundin“. Kurt Hahn war Gast im Hause Lepsius, Sabine schreibt (Erinnerungen, S. 209): „Schon als Kind war er voller Verehrung für Reinhold und Johannes.“

Kurt Hahn, 28 Jahre jünger als Johannes Lepsius, kannte diesen also schon lange vor dem Ersten Weltkrieg und war mit dem Freundes- und Verkehrskreis der Familie Lepsius vertraut. Auf dieser familiären Vertrautheit und auf gemeinsamen politischen Einstellungen begründete sich dann die gemeinsame Reise von Kurt Hahn und Johannes Lepsius Ende Mai 1916 nach Den Hag zu Sondierungsgesprächen über die Chancen deutsch-britischer Friedensgespräche. Dazu haben beide ein Memorandum verfasst, in dem es heißt: „Von holländischer Seite wurde an deutsche Friedensfreunde die Anregung vermittelt, die Gelegenheit einer Reise eines holländischen Parlamentariers nach London zu benutzen, um eine deutsche Meinungsäußerung über die Aussicht einer Fühlungsnahme an die englischen Freunde zu überbringen.“ Aus Äußerungen des englischen Ministerpräsidenten Edward Grey und des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg war der Eindruck entstanden, auf beiden Seiten wäre ein Friedenswille vorhanden. Der holländische Bote berichtete nach seiner Rückkehr aus London, Voraussetzung für Kontakte sei die verlässliche Erklärung Deutschlands über die Restitution des besetzten Belgiens nach dem Kriege.

Kurt Hahn wollte die Kontakte mit den holländischen Friedensfreunden weiter pflegen und zugleich die Friedenschancen mit England und ihren Niederschlag in der englischen Presse genauer beobachten. Dazu hatte er eine „Auslandshilfsstelle“ in Den Haag eingerichtet, die er bei der deutschen Botschaft akkreditieren konnte und für die er Johannes Lepsius rekrutierte. Dieser war aus gesundheitlichen Gründen im Juli 1916 nach Holland übersiedelt – er hatte Diabetes – und war überdies wegen seines Armenien-Engagements in Deutschland zu einer „persona non grata“ geworden.

Wie konnte Kurt Hahn diese Aktivität entfalten? Er war in die „Zentralstelle für Auslandsdienst“ mit Anschluss an das Auswärtige Amt berufen worden. Diese Stelle wurde nach Kriegsbeginn eingerichtet und von Paul Rohrbach geleitet. Sie sollte die ausländische Presse analysieren und dem Auswärtigen Amt Informationen über die Ereignisse und Stimmungen in den Feindstaaten liefern. Dafür wurde Kurt Hahn als der „englische Lektor“ eingestellt. Er hatte die letzten vier Jahren vor Kriegsausbruch in England gelebt und in Oxford studiert. Er kannte die englischen Verhältnisse und hatte gute persönliche Kontakte. Schon sein Großvater und sein Vater hatten gute geschäftliche Beziehungen nach England, die Familie war anglophil. Zwei Tage vor Kriegsausbruch war Kurt Hahn über Norwegen nach Deutschland entkommen und bot sich für diese Verwendung an, zumal er „nicht kriegstauglich“ war. Seine Mitarbeiterin wurde Lina Richter, eine Enkelin des Bankiers Oppenheimer, der in Verbindung mit der Familie Hahn gestanden hatte. Von dieser Stelle aus konnte Kurt Hahn viele Kontakte knüpfen und sich eine gewisse Selbstständigkeit bei der Führung seines Amtes verschaffen. Auch zu dem Leiter der Militärischen Stelle im Auswärtigen Amt, Oberst Hans von Haeften, trat er in ein vertrauensvolles Verhältnis. Dieser hatte in direktem Kontakt zu Erich Ludendorff. So war Kurt Hahn gut informiert und vernetzt. Er versuchte, über die von ihm gesammelten Informationen über England seine politischen Überzeugungen zu verbreiten und zu begründen. Diese Überzeugungen bestimmten ihn, für eine Beendigung des Krieges auf die englische, nicht auf die russische Option zu setzen. Er wollte einen baldigen „Verständigungsfrieden“ und nicht auf einen ungewissen „Siegfrieden“ warten.

Johannes Lepsius verfasste regelmäßige ausführliche Berichte über die Friedensbereitschaft von England und die politische Stimmung im Land durch die Auswertung der englischen Presse und aus den Kontakten mit seinen holländischen Gewährsleuten. Kurt Hahn verschaffte Johannes Lepsius dafür eine Entschädigung, die Robert Bosch bezahlte und die es ihm ermöglichte, in Holland zu leben. Nach der Friedensresolution des Reichstages im Juli 1917 veranlasste Hahn auch die Übersiedlung von Johannes Lepsius’ Tochter Renate zur Verstärkung der Auswertung der englischen Zeitungen. Zeitweilig wurden 14 Zeitungen und Zeitschriften analysiert und ein Büro mit Schreibmaschine eingerichtet. Renate Lepsius hatte Anglistik studiert und vor dem Krieg ein Jahr an einer englischen Schule unterrichtet, besaß also gute Voraussetzungen für die Übersetzung der englischen Quellen.

Kurt Hahn, gestützt von diesen Berichten, wirkte im Rahmen seiner Netzwerke, unter anderem auch über Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft 1914“, wie Hans Delbrück und Friedrich Meinecke, im Sinne des „Verständigungsfriedens“ und trat gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg ein und befürwortete eine innenpolitische Demokratisierung. Er selbst hatte keine Position, über die er direkt an Entscheidungen mitwirken konnte. Er war, wie man heute sagen würde, ein Netzwerker.

Johannes Lepsius war noch vor seiner Ausreise nach Holland der „Vereinigung Gleichgesinnter“ (vgl. Karl Holl, Die „Vereinigung Gleichgesinnter“, Archiv für Kulturgeschichte, Jg. 54, 1972) beigetreten, die friedensorientierte Persönlichkeiten zusammenführte, die im Hause des Kunsthistorikers Werner Weisbach zusammenkamen. Diese Vereinigung wurde nach dem Verbot des am 16. November 1914 gegründeten „Bundes Neues Vaterland“ am 7. Februar 1916 ins Leben gerufen, um einen Kreis von zuverlässigen, nicht chauvinistischen Persönlichkeiten zusammenzuhalten, die ad hoc als Vermittler nach dem Kriege bereitstehen sollten. Neben Weisbach, dem Mann einer Nichte von Johannes Lepsius, gehörte auch deren Vetter, Friedrich Curtius, zu diesem Kreis. Familiäre Kontakte spielten auch in diesem Falle eine Rolle. Auch der Theologe Friedrich Siegmund Schulze, der Leiter des „Internationalen Versöhnungsbundes“ und Gründer der auf englischem Vorbild der Nachbarschaftsarbeit aufbauenden Arbeitsgemeinschaft Ost (Berlin), mit dem Lepsius befreundet war, gehörte zu dem Kreis. Renate Lepsius war nach dem Krieg eine seiner engen Mitarbeiter.

Wir stehen vor einem Geflecht von persönlichen Beziehungen zwischen Menschen, die sich seit Kriegsbeginn für einen baldigen Frieden einsetzten, alle deutschen Annexionspläne ablehnten und für eine innere Demokratisierung Deutschlands eintraten. Diese Netzwerke wurden durch Zensurbestimmungen und polizeiliche Überwachung aus der Öffentlichkeit ferngehalten, wogegen die Vertreter des „Siegfriedens“ sich lautstark äußern konnten und die öffentliche Meinung zu beeindrucken vermochten. Sie repräsentierten die Mehrheit der deutschen intellektuellen Kreise, wie man aus der Zahl der Unterzeichner der sogenannten „Seeberg-Adresse“, die von dem Berliner Theologen Reinhold Seeberg organisiert worden war und für Annexionen im Osten wie im Westen eintrat, erkennt. Zu ihren Unterzeichnern gehörten

1.341 Professoren, höhere Verwaltungsbeamte, Richter und Anwälte. Am 8. Juli 1915 wurde sie dem Reichskanzler übergeben. Dagegen hatten Theodor Wolff, Hans Delbrück und Lujo Brentano zu einer Gegenadresse aufgefordert, die am 27. Juli 1915 dem Reichskanzler überreicht und von 91 bis zum Oktober von 141 Intellektuellen unterzeichnet wurde. Zu diesen zählten Albert Einstein, Max Weber, Max Planck, Friedrich Wilhelm Foerster, Gerhard Anschütz, Hermann Onken, Heinrich Herkner, Martin Rade – alles Persönlichkeiten, die auch in anderen Zusammenhängen als Vertreter der „Friedenspartei“ in Deutschland aufgetreten sind.

Direkt nach Kriegsausbruch wurde die öffentliche Erörterung der deutschen Kriegsziele verboten, so dass die Kriegsgegner und die Neutralen über die deutschen Nachkriegsabsichten im Dunklen gelassen wurden. Offiziell führte das Deutsche Reich einen „Verteidigungskrieg“ zur Sicherung seiner Existenz. Nur in informellen Kontakten und unveröffentlichten „Denkschriften“ konnte die Debatte über die Kriegsziele geführt werden.

Johannes Lepsius war von den Zensurbestimmungen unmittelbar betroffen gewesen. Sein „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, der die Ergebnisse seiner Reise nach Konstantinopel Ende Juli 1915 zusammengestellt hatte, wurde vom zuständigen Generalkommando sofort verboten und ihm ein Redeverbot auferlegt. Er entzog sich dem Rede- und Publikationsverbot durch seine Übersiedlung nach Holland.

Die Vorgeschichte ist die Folgende: Anfang Juni 1915 wurde Johannes Lepsius im Auswärtigen Amt ein Telegramm des deutschen Botschafters in Konstantinopel vorgelegt, in dem dieser von schweren Verfolgungen der Armenier berichtete und bat, Dr. Lepsius zu informieren, dass dagegen leider nichts getan werden könne. Lepsius konnte sich mit dieser Mitteilung nicht abfinden und erwirkte die Erlaubnis des Auswärtigen Amtes, nach Konstantinopel zu reisen, um zu erfahren, was genau geschehen war. Der Unterstaatssekretär Zimmermann unterstützte diese Bitte, und die türkischen Behörden erlaubten nach Zögern seine Einreise, verboten jedoch jede Weiterreise nach Anatolien. Als er in Konstantinopel ankam, war ihm die Lage sofort klar. In einem Brief an seine Frau schrieb er noch aus Konstantinopel: „Es ist unsagbar, was geschehen ist und noch geschieht. Die vollkommene Ausrottung ist das Ziel.“ Er hielt sich drei Wochen in Konstantinopel auf und sammelte aus allen ihm zugänglichen Quellen Material über die Massaker und Deportationen. Durch Vermittlung des

Korvettenkapitäns Humann gelang es ihm schließlich, ein persönliches Gespräch mit dem Kriegsminister, Enver Pascha, zu führen, das allerdings ohne positives Ergebnis blieb. Lepsius hatte angeboten, sein Hilfswerk und von ihm gesammelte Gelder zur Hilfe für die Deportierten einzusetzen, was Enver Pascha kategorisch ablehnte. Nach seiner Rückkehr nach Berlin konnte er nicht dem Gebot der deutschen Regierung folgen, bis zum Kriegsende über die armenischen Angelegenheiten zu schweigen. Er informierte die Presse, organisierte eine Eingabe an den Reichskanzler und schrieb seinen Bericht, der sofort verboten worden war.

Johannes Lepsius lieferte nun aus Den Haag regelmäßige Berichte, in denen die Chancen für einen Frieden analysiert wurden. Aus dem Jahr 1918 sind diese überliefert. In diesen drängte auf eine klare Darstellung der deutschen Kriegsziele, die Ablehnung von Annexionen im Westen und nach 1918 auch im Osten sowie – im Anschluss an die Memoranden von Präsident Wilson – auf die deutsche Zustimmung zu Abrüstung, Völkerbund und Schiedsgericht für die Zeit nach dem Kriege. Am 8. Januar 1918 schrieb er: „Wie stark aber auch die Friedensströmungen sind, so darf man sich doch nicht darüber täuschen, dass selbst der Sieg der verständigen Elemente den Frieden höchstwahrscheinlich nicht bringen wird, wenn Deutschland den Schein der Zweideutigkeit weiter befördert.“ Und am 5. Februar 1918 glaubte er voraussagen zu können, „dass auch in Deutschland – aus der Furcht heraus, Schwäche zu zeigen – nicht rechtzeitig die Mittel ergriffen werden, den Frieden jetzt herbeizuführen“. Am 13. Februar 1918 berichtete er von der Meinung in England, „ein neues System (in Deutschland, d.Verf.) könne nicht echt sein, wenn es von Männern der alten Schule, namentlich von Reaktionären getragen ist“. Er unterstützte die Absichten Kurt Hahns, Prinz Max von Baden zum Reichskanzler zu ernennen. Mit der Verschlechterung der militärischen Lage im Westen und den halbherzigen innenpolitischen Kompromissen verdüsterten sich seine Aussichten, für einen Frieden. Am 4. September 1918 meinte er, „für die Entente werden die Gründe für die Fortsetzung des Krieges immer wohlfeiler, solange man wieder den Endsieg vorspiegeln kann. Tun Sie, was Sie können, um so oder so das drohende Unheil abzuwenden“.

Kurt Hahn hatte Prinz Max von Baden in Berlin kennen gelernt. Dieser hatte sich international anerkannte Verdienste bei der Behandlung von Kriegsgefangenen in Deutschland erworben. In ihm sah er die geeignete Persönlichkeit, die einen Friedensvertrag zur Beendigung des Krieges herbeiführen könnte, und so warb er schon nach dem Rücktritt von Bethmann Hollweg 1917 für ihn als Reichskanzler zusammen mit dem Abgeordneten Haussmann von der „Fortschrittspartei“. Er wurde zum politischen Berater des Prinzen und gewann dadurch Einfluss, vor allem, nachdem der Prinz am 3. Oktober 1918 zum Reichskanzler ernannt worden war. Prinz Max vollzog den Übergang zu einer parlamentarisch gestützten Regierung, gab eigenmächtig den Rücktritt des Kaisers bekannt und übertrug schließlich die Geschäfte an Friedrich Ebert, den Führer der Mehrheitssozialdemokraten. In seiner kurzen Regierungszeit ermöglichte er den nötigen Regimewechsel. Doch seine Kanzlerschaft kam zu spät und war zu kurz, um noch Einfluss auf den raschen und revolutionären Gang der Entwicklung nehmen zu können. Den Bemühungen von Kurt Hahn und Johannes Lepsius war kein Erfolg beschieden.

Nach dem Waffenstillstand erinnerte sich das Auswärtige Amt an seinen internationalen Ruf als Anwalt der Armenier und seine Expertise in der armenischen Frage, die das Auswärtige Amt schon in den Jahren 1913/14 in Anspruch genommen hatte, als es um die internationalen Verhandlungen der europäischen Mächte mit der Türkei über die Einräumung von Selbstverwaltungsrechten für die Armenier gegangen war. Damals war er ein geschätzter Berater der deutschen Regierung gewesen. Nun bestand die Sorge, bei den Friedensverhandlungen könnten die Verfolgungsmaßnahmen der Türken gegen die Armenier auch den Deutschen angelastet werden. Der amtierende Staatssekretär Solf beauftragte daher Lepsius, im Rahmen der beabsichtigen Publikation der amtlichen deutschen Akten zur auswärtigen Politik vordringlich und mit größter Eile eine Sammlung diplomatischer Aktenstücke zur Armenienpolitik während des Krieges zusammenzustellen, um möglichen Vorwürfen der Alliierten begegnen zu können. In Frankreich und in England hatten die Deportationen und Massaker große Aufmerksamkeit erlangt. Dies tat er mit größter Kraftaufwendung. Noch 1919 konnte seine große Aktensammlung „Deutschland und Armenien“ veröffentlicht werden.

Bei den Friedensverhandlungen mit Deutschland spielte die Armenienfrage keine Rolle. Der Vertrag aber enthielt eine Bestimmung über die Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges und aller mit ihm verbundenen Folgen. Die deutsche Delegation wurde gezwungen, dieser Feststellung zuzustimmen.

Dies zu vermeiden, war auch der Anlass für Kurt Hahn, zusammen mit Prinz Max eine „Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts“ zu gründen. Hahn wollte durch seine Initiative die Verhandlungsposition des Deutschen Reiches durch die Zurückweisung der Kriegsschuld Deutschlands bei den Friedensvertragsverhandlungen stärken. In Anknüpfung an die Grundsätze der 14 Punkte von Präsident Wilson sollte ein „Rechtsfrieden“ anstelle eines „Gewaltfriedens“ treten. Ferner sollte der Gräuelpropaganda über das Verhalten deutscher Soldaten entgegengetreten werden. Am 4. Februar 1919 wurde die Gründungsversammlung im Hause Max Webers in Heidelberg, weshalb die Vereinigung auch den Zusatz „Heidelberger Vereinigung“ trug, einberufen. Zu den Teilnehmern gehörte auch Johannes Lepsius, von dem eine am 9. März 1919 angefertigte Niederschrift überliefert ist. Darin äußerte er sich sehr kritisch über die Zusammenkunft, fand sie schlecht vorbereitet und in der Diskussion ziellos. Kurt Hahn habe ihm weder vorher noch nachher verraten, „worauf er eigentlich hinaus will“. Er fügte an, „die Grunddifferenz zwischen Kurt und uns liegt in der verschiedenen Bewertung der Revolution, die dort nur als ein Malheur im gewöhnlichen Geschichtsverlauf, für mich aber der Durchbruch der neuen Weltära ist“. Johannes Lepsius hatte als Reiselektüre Schmollers „Soziale Frage. Finanziert wurde die Versammlung von Robert Bosch. Andere Teilnehmer entstammten dem Bekanntenkreis von Max Weber, wie dessen Bruder Alfred und die Heidelberger Kollegen Hermann Onken und Richard Thoma. Geplant war eine „Centralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen“ und eine „Europäische Informationsquelle für Tatsachen der auswärtigen Politik“. Insofern war die „Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts“ eine parallele Unternehmung zu den Plänen des Auswärtigen Amtes, die Akten zur auswärtigen Politik zu veröffentlichten. Zunächst sollten nur die Akten zum Kriegsausbruch, die schon von Karl Kautsky in der Regierungszeit der Volksbeauftragten vorbereitet worden war und dann von General Max Graf Montgelas und Walter Schücking herausgegeben wurden, veröffentlicht werden. Als aber die Kriegsschuld Deutschlands auf die deutsche Politik „seit Jahrzehnten ausgeweitet wurde, entschloss sich die Reichsregierung, eine Aktenpublikation über die Zeit seit 1871 in Auftrag zu geben. Die Verantwortung teilten sich drei Herausgeber: Albrecht Mendelssohn-Bartholdy sollte die Verhältnisse zum britischen Weltreich, Friedrich Thimme die deutsch-französischen Beziehungen und Johannes Lepsius die Ostfragen: Russland, Österreich-Ungarn, Balkan und Türkei betreuen. Das Ergebnis: „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914“ wurde im Auftrag des Auswärtigen Amtes veröffentlicht.

Kurt Hahn zog sich aus der politischen Arbeit zurück, gründete im Schloss Salem von Max von Baden eine Internatsschule und arbeitete für die Memoiren von Max von Baden. Die „Vereinigung für Politik des Rechts“ entwickelte keine Aktivitäten und verfügte auch über keine Mittel mehr.

Im Versailler Friedensvertrag wurde erstmals die moralische Schuld einer Kriegspartei festgestellt. Das war bisher noch nicht geschehen. In der Mangelnote hieß es: Nach Anschauung der Alliierten und Assoziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch gekommen ist, das größte Verbrechen der Menschheit gegen die Freiheit der Völker gewesen, welche eine sich als zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewusstsein begangen hat. Während langer Jahre haben die Regierungen Deutschlands getreu der preußischen Tradition die Vorherrschaft in Europa angestrebt“. Der § 231 des Friedensvertrages lautete: „Die Alliierten und Assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, das Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch die Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.“ Alle deutschen Bemühungen, die alleinige Verantwortung für den Krieg abzuwehren und die Kriegsschuldfrage durch eine internationale Kommission auf der Grundlage der jeweiligen Regierungsakten zu untersuchen, wurden abgelehnt, die deutsche Unterschrift erzwungen. Die deutsche Kriegsschuld war das moralische Fundament für die einschneidenden Friedensbedingungen. Es war naheliegend, gegen diese Feststellung zu argumentieren. Bei den Friedensvertragsverhandlungen konnte darüber nicht gesprochen werden, und so liefen auch die Intentionen sowohl der deutschen Aktenpublikation wie auch der „Heidelberger Vereinigung“ ins Leere. Die jahrelangen Verhandlungen über eine Revision des Friedensvertrages wandten sich den einzelnen Bestimmungen zu, ließen die Kriegsschuldfrage unberührt. Aber Deutschland war nicht bereit, sie auf sich zu nehmen, und die Agitation gegen den „Schandfrieden“ trug zur Machtergreifung Hitlers bei.

Johannes Lepsius war, wie die Mehrheit der Deutschen, von der Unrichtigkeit dieser Anschuldigung überzeugt und stellte in einem Aufsatz im Juniheft 1922 der „Süddeutschen Monatshefte“ aufgrund der von ihm mit herausgegebenen Akten aus der Bismarckzeit den Friedenswillen Bismarcks dar, der über die Revanche-Politik Frankreichsund der aggressive Panslawismus Russlands gestanden habe. Die Kriegsschuldfrage verlor an politischer Dringlichkeit.

Kurz Hahn zog sich aus der Politik zurück; er unterstützte den Prinzen Max von Baden bei der Abfassung seiner Memoiren und konzentrierte sich auf den Aufbau der Internatsschule Schloss Salem. Pädagogische Probleme bestimmten seither sein Leben, und als Reformpädagoge ist er auch berühmt geworden.

Johannes Lepsius wandte sich dem Wiederaufbau seiner Armenischen Hilfswerkes und anderen Projekten für Armenien zu. Er war schon im Februar und März 1919 in die Schweiz gereist, um mit den alten dortigen Freunden Kontakte zu erneuern.

Armenische Probleme hielten ihn in Atem. Schon 2929/20 war sein Dienstzimmer im Auswärtigen Amt, in dem er an der Aktenpublikation arbeitete, zu einer Anlaufstelle für Armenier geworden und beim Prozess im Juni 1921 gegen den Armenier Teilirian, der den ehemaligen Großwesir des Osmanischen Reiches, einen Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern auf offener Straße erschossen hatte, als Sachverständiger geladen. Sensationellerweise wurde der Attentäter freigesprochen. Johannes Lepsius hatte für den Prozess den Anwalt und den vorzüglichen Dolmetscher besorgt, selbst eine Erklärung zu den Massakern abgegeben und war daher an dem Geschehen zentral beteiligt. Die Kooperation zwischen Kurt Hahn und Johannes Lepsius war zu einem Ende gekommen.

Was lässt sich daraus für die politischen Einstellungen von Johannes Lepsius entnehmen? Johannes Lepsius war ein deutscher Patriot, aufgewachsen in einem protestantisch-preußischen Selbstverständnis. Er war idealistisch, religiös und bürgerlich-liberal. Seit dem Kriegsausbruch war er für einen baldigen Frieden auf der Grundlage gleichberechtigter Verhandlungen engagiert. Er gehörte zu der Minderheit im deutschen Bildungsbürgertum, die nicht nationalistisch agitiert auf einen „Siegfrieden“ setzte. Damit gehörte er zu denjenigen, die die Lage Deutschlands realistisch und rational beurteilten, so wie auch Kurt Hahn und eine Reihe bedeutender Intellektueller, wie Max Weber, Hans Delbrück, Conrad Hausmann und andere. Diese deutsche „Friedenspartei“ hat die Politik der Reichsregierung nicht zu beeinflussen vermocht, weder in der Frage der Annexionen noch in der Frage des U-Boot-Krieges, noch auch im Hinblick auf die innenpolitische Demokratisierung. Die deutsche Politik glaubte immer wieder an die Chancen für einen „Siegfrieden“, ohne jedoch für diesen Fall klare Vorstellungen für eine zukünftige europäische Friedensordnung zu entwickeln. Johannes Lepsius und seine Gesinnungsfreunde versuchten, auf informellen Wegen Einfluss zu nehmen. Sie hatten keinen Erfolg. Von dem unerwarteten militärischen und politischen Zusammenbruch im November 1918 waren sie tief betroffen, doch versanken sie nicht in Depressionen und Lethargie. Sie blieben tatkräftig. Als Johannes Lepsius am 28.November wieder nach Deutschland kam, besorgte er sich gleich „als „Reiselektüre Schmollers ‚Soziale Frage’ und Mehrings Leben von Karl Marx. Auch das ist eine neue Belastung, dass man sich jetzt ganz neuen Wissenschaften, Nationalökonomie und Sozialismus eintun muß, wenn man nicht hinter der Zeit zurückbleiben will...“ Er war der neuen Zeit gegenüber aufgeschlossen und befürwortete die Demokratisierung. Seine Loyalität gehörte den Armeniern, und sein Nachruhm gründet sich zu Recht auf seiner Hilfe für die Verfolgten und seinem Eintreten für die Menschenrechte.