Genozidforschung in vergleichender Perspektive

Wolfgang Benz, TU Berlin
2010

Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

Das 20. Jahrhundert ist als das Saeculum der Völkermorde historisch etikettiert. Der Herero-Aufstand in „Deutsch-Südwestafrika“, als Rebellion eines Kolonialvolkes von den Zeitgenossen wahrgenommen, als Vernichtungsfeldzug von deutschen Truppen exekutiert, steht am Anfang. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg trug, mit eineinhalb Millionen Opfern, alle Merkmale des Staatsterrors gegen eine Minderheit: den ideologisch begründeten Vorsatz, die systematische Durchführung, die Tarnung aus Staatsräson und die Verleugnung aus patriotischen Motiven durch den Nachfolgestaat bis zum heutigen Tag. Der Holocaust war einzigartig wegen der ideologischen Zielgerichtetheit, wegen der Verbindung aus Propaganda gegen die Betroffenen mit dem Ziel der Akzeptanz des Völkermords durch die Mehrheitsgesellschaft und gleichzeitiger Geheimhaltung der Methoden, der Orte und des Personals seiner Durchführung. Und der Mord an sechs Millionen europäischen Juden war auch in seiner Dimension ohne Vorbild.

In Kambodscha kommt 1975 der Anführer der Roten Khmer, Pol Pot, an die Macht. Er versucht, ein ländliches radikalkommunistisches System zu errichten. 1975, im Jahre Null der von ihm begründeten neuen Ära, wird das Geld abgeschafft, werden Städte aufgelöst, beginnt die Ausrottung von Eigentümern, Gebildeten, Fremden. Bei Todesmärschen der Stadtbevölkerung in die ländlichen Kollektive, in Gefängnissen, Folterzentren, durch Hunger und Seuchen, durch Massaker und Mord gehen Menschen in einer Größenordnung zugrunde, die zwischen 1,6 und 2,4 Millionen liegt. Am Tatbestand des Völkermords ist nach moralischen Kategorien kein Zweifel möglich.

Der Genozid im Europa der neunziger Jahre, der auf dem Balkan ausbrach, als der Staat Jugoslawien in Agonie fiel und sich auflöste, hatte einen eigenen, einen neuen Namen. Der Begriff „ethnische Säuberung“[1] war bald in aller Munde, wurde zuerst in den Medien, schließlich auch in der Wissenschaft benutzt.[2] Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vokabel in Gebrauch genommen und damit objektiviert wurde, irritierte nur wenige. György Konrad beklagte den Mangel an Sensibilität und konstatierte die Nonchalance, mit der auch der Sachverhalt, den der ominöse Begriff umschreibt, hingenommen wurde: „Die euphemistische und ohne Anführungszeichen erfolgende Übernahme eines unflätig rassistischen Wortes in den internationalen Sprachgebrauch markiert das zweideutige Verhältnis der Zuständigen zum Thema“.[3]

Eine Experten-Kommission, eingesetzt vom UN-Sicherheitsrat, hat im Mai 1992 konstatiert, dass als „ethnische Säuberung“ die vorsätzliche Politik einer ethnischen oder religiösen Gruppe zu verstehen sei, mit den Mitteln von Gewalt und Terror die Zivilbevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe aus einem bestimmten Territorium zu entfernen. Ziel einer solchen Politik ist die Okkupation des Gebiets unter Ausschluss der vertriebenen Gruppe. Aber der Sachverhalt „ethnische Säuberung“, das machte die Expertenkommission deutlich, geht über den Tatbestand der Vertreibung weit hinaus. Zur „ethnischen Säuberung“ gehören „Massenmord, Folter, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Nötigung, schwere Körperverletzungen von Zivilisten, Misshandlung ziviler Gefangener und Kriegsgefangener, Verwendung von Zivilisten als menschliche Schutzschilde, Zerstörung von privatem und öffentlichem Eigentum und Kulturgütern, Plünderung, Diebstahl und Raub von privatem Eigentum, Zwangsenteignungen von Grundstücken und Häusern sowie Angriffe auf Spitäler, medizinisches Personal und Anlagen, die mit dem Roten Kreuz bzw. dem Roten Halbmond gekennzeichnet sind“.[4]

Der letzte große Völkermord des 20. Jahrhunderts geschah unter den Augen der Weltöffentlichkeit, aus unmittelbarer Nähe beobachtet von Einheiten mit blauen Helmen, die von der UNO entsandt waren. Von April bis Juli 1994 wurden in Ruanda von Mordbanden in staatlichem Auftrag Hunderttausende vom Säugling bis zum Greis abgeschlachtet, weil sie der Volksgruppe der Tutsi angehörten.[5]

Völkermord ist eine zentrale Metapher für Politik im zwanzigsten Jahrhundert geworden.[6] Die wissenschaftliche, d. h. vergleichende und generalisierende Beschäftigung damit ist aber erst spät in Gang gekommen, nachdem ein erster Ansatz, Raphael Lemkins Studie „Axis Rule in Occupied Europe“ aus dem Jahr 1944 vor allem als Instrument eines neuen Völkerrechts rezipiert worden war.[7] Jacques Sémelin hat sechs Jahrzehnte danach eine komparatistische Analyse auf höchstem Niveau vorgelegt.8 Als Arbeitsbegriff verwendet Sémelin den Terminus „Massaker“ als kleinsten gemeinsamen Nenner. Es ist gut nachvollziehbar, dass er die enge juristische Definition, bezogen auf ihre politische Anwendung, zu überwinden trachtet, aber die terminologische Abstinenz des Sozialwissenschaftlers muss doch problematisiert werden angesichts verbreiteter Marginalisierungsversuche (etwa der türkischen Politik, die die genozidale Dimension des Armeniermordes im Ersten Weltkrieg mit den Begriffen Vertreibung und Massaker zu relativieren sucht) ebenso wie angesichts eines entgegengesetzten Strebens auf interessierter Seite, etwa die Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mittel-Europa nach 1945 unter Hinweis auf dabei stattgefundene Exzesstaten („Massaker“) zum intentionalen Völkermord zu stilisieren.

Gleichwohl ist Sémelin zuzustimmen, dass es zuvörderst nicht um die Terminologie geht, sondern um das Rätsel, wie abstrakte Vernichtungsphantasie durch Vernichtungsmacht konkretisiert wird zum Leid der Opfer, die vor der Ermordung noch Qualen unterworfen werden, die als Ausfluss von Atavismus und Barbarei von Militärs und Bürokraten, von Bürgern und Nachbarn so leicht agiert wie schwer zu erklären sind. Sémelins Methode ist der Vergleich und seine Absicht als Aufklärer ist das Verstehen der Beweggründe gewaltsamen Handelns. Objekte der Betrachtung und Analyse sind drei Völkermorde, der Holocaust, der Genozid in Ruanda und die Verbrechen in Bosnien. Methodisch bedient sich der theoretisch reflektierte Vergleich aller Möglichkeiten der Sozialwissenschaften, die psychologische Ansätze ebenso einbezieht wie historische und soziologische Fragestellungen. Auf der Suche nach Erklärungen für die staatlich initiierte, gesellschaftlich sanktionierte kollektive vernichtende Gewalt gegen [8]Zivilisten plädiert Sémelin überzeugend für die Emanzipation von der Definitionshoheit der Juristen zugunsten sozialwissenschaftlicher disziplinärer Autonomie. Die Erkenntnis, dass die auf Raphael Lemkin zurückgehende UNO-Definition zum Völkermord aus dem Jahr 1948 zu kurz greift, bestätigen die Bemühungen um strafrechtliche Ahndung durch das junge UN-Kriegsverbrechertribunal nicht minder als die öffentlichen Debatten, die von normativer Begrifflichkeit behindert oder durch sie instrumentalisiert sind.[9]

Die justitielle Sühne von Völkermord ist seit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die noch greifbare Elite des NS-Regimes Thema der Rechtswissenschaft, obwohl es den Begriff Völkermord oder den Tatbestand Genozid noch nicht gab. Es dauerte Jahrzehnte, bis das Ziel, die Errichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, erreicht war, aber seiexistiert er und arbeitet. Außer der juristischen Sühne sind Prävention und die Suche nach Frieden und Gerechtigkeit oder nach der Katastrophe Versöhnung notwendig.

Die Perspektive des Historikers muss bei der vergleichenden Betrachtung von Massengewalt, an der es im 20. Jahrhundert nicht mangelt, von Abessinien über Bangla Desh, Sri Lanka bis Guatemala oder Ost-Timor auch Phänomene einbeziehen, die intentional nicht als Völkermord zu definieren sind, auch wenn sie ideologischen Triebkräften folgten.[10] Ein von Anhängern einer eindimensionalen Totalitarismustheorie gerne gebrauchter Vergleich der Verbrechen des NS-Regimes mit Gewaltexzessen des Stalinismus[11] betrifft den Holodomor, den Hungertod von Millionen in der Ukraine, im Kaukasus, an Wolga und Don, in Kasachstan. Die Größenordnung — fünf bis sieben Millionen Menschen — entspricht dem Judenmord unter NS-Ideologie, die Forschung hat aber die Unterschiede herausgearbeitet, die dagegensprechen, den Holodomor als Völkermord wie den Holocaust zu begreifen. Feindbilder waren aber trotzdem Triebkräfte des Staatsterrors, der sich gegen nationalstolze (d. h. antisowjetische) Ukrainer und gegen Bauern richtete, die ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit gegen die Kollektivierung verteidigten.

Ressentiments gegen Sinti und Roma, die in den Völkermord mündeten, haben eine jahrhundertealte Vorgeschichte, die lange vor dem Nationalsozialismus durch Ausgrenzung und Kriminalisierung charakterisiert war. Die Rassenideologie des Dritten Reiches definierte „Zigeuner“ mit den Nürnberger Gesetzen 1935 als außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stehende unerwünschte Gruppe. 1938 wurde im Reichskriminalpolizeiamt eine „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ gebildet, am 8. Dezember 1938 verfügte Himmler als Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, die „Regelung der Zigeunerfrage“ müsse „aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ erfolgen. NS-Institutionen wie die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ des Reichsgesundheitsamtes erstellten pseudowissenschaftliche Gutachten, die der Polizei als Grundlage der Verfolgung dienten. Die Ghettoisierung in Lagern hatte, wie in Berlin, Frankfurt am Main und anderen Großstädten, 1936 begonnen; Sinti und Roma wurden als „Asoziale“ häufig auch in Konzentrationslager eingeliefert.

Mit Kriegsausbruch 1939 wurden sie durch Himmlers Festschreibungserlass zwangsweise sesshaft gemacht und registriert. Die organisierte Deportation der Sinti und Roma aus dem Gebiet des Deutschen Reiches über Sammellager nach Polen begann im Mai 1940. In KZ wie Auschwitz und Majdanek und in Vernichtungslagern wie Treblinka oder Chelmno wurden „Zigeuner“ ermordet; im Baltikum, in der Ukraine, in Kroatien und Serbien wurden sie durch SS, Wehrmacht und einheimische Gehilfen deutscher Rassenpolitik in Massenexekutionen getötet. Der Tatbestand des Völkermords aus rassistischen Beweggründen ist nicht zu bezweifeln, lediglich die Zahl der Opfer ist umstritten bzw. nicht genau zu quantifizieren.[12]

Mit dem Zweiten Weltkrieg begann im Herbst 1939 in Europa eine der größten Umsiedlungs-, Emigrations- und Vertreibungswellen, die die Geschichte kennt. Die erste Phase der Völkerwanderung erfasste über neun Millionen Menschen, die in einem Raum, der von Finnland im Norden, der Ukraine im Osten, Griechenland im Süden und Frankreich im Westen begrenzt war, rückgesiedelt, umgesiedelt, „eingedeutscht“, „umgevolkt“ oder verschleppt wurden. (In dieser Zahl sind die Millionen europäischer Juden, die im Zuge der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ deportiert und ermordet wurden, nicht enthalten.) Die nationalsozialistische Volkstumspolitik feierte die Umsiedlungen und Deportationen als Erfolg, holte sie doch Hunderttausende von Volksdeutschen „heim ins Reich“, wo sie verfügbar wurden für die Germanisierung der ehemals polnischen Gebiete, die Deutschland annektierte. Rund 1,2 Millionen Polen mussten ihre Heimat in den neuen „Reichsgauen“ Wartheland und Danzig/Westpreußen verlassen und in das sogenannte Generalgouvernement übersiedeln. Die Ziele, die sich hinter den bevölkerungspolitischen Maßnahmen der Deutschen verbargen, umreißt eine Denkschrift des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP vom 25. November 1939, also kurz nach der Niederlage Polens, in der die „Schaffung einer rassisch und damit geistig-seelisch wie völkisch-politisch einheitlichen deutschen Bevölkerung“ propagiert war. Der Verfasser der Denkschrift fuhr konsequent fort: „Hieraus ergibt sich, daß alle nicht eindeutschbaren Elemente rücksichtslos beseitigt werden müssen.“[13] Die Umsiedlung des „Volksdeutschen“ stand in einem Zusammenhang mit der Vernichtung von „Artfremden“.

Dem militärischen und politischen Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 folgte auf die Ostbewegung in Mittel-, Südost- und Osteuropa eine ebenso gewaltsame Westbewegung. Lange vor der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 stand fest, dass das Sudetenland wieder Bestandteil der Tschechoslowakischen Republik sein würde, aber ohne seine deutschen Bewohner war Tatsache. Auch die Westverschiebung des wiedererstehenden polnischen Staates, da Stalin Ostgalizien (das nach dem Abkommen mit Hitler 1939 der Sowjetunion zugesprochen war) als Teil der Ukraine in der Sowjetunion hielt. Vom Territorium des Deutschen Reiches sollten zur Entschädigung Polens Ostpreußen, dessen nördliche Hälfte die Sowjets beanspruchten, und die östlich der Oder-Neiße-Linie liegenden Gebiete Pommerns, der Mark Brandenburg und Schlesiens abgetrennt werden und unter polnischer Verwaltung bleiben, unter die sie die Sowjets bereits am 21. April 1945 gestellt hatten. Die Ausweisung von Deutschen aus ihrem Staatsgebiet betrieben dann aber nicht nur die Polen, sondern auch die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien.

Die Vertreibung der Deutschen sollte, so hatten es die Alliierten auf ihren Kriegskonferenzen in Teheran (1943) und Jalta (1945) erörtert und in Potsdam besiegelt, innerhalb der neuen Grenzen Frieden stiften und die Minderheitenprobleme ein für alle Mal bereinigen, wie Churchill im britischen Unterhaus im Dezember 1944 erklärte: „Denn die Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen, wie zum Beispiel im Fall Elsass-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden.“[14] Für die Tschechoslowakei hatte Staatspräsident Benesch dasselbe, die restlose Austreibung der deutschen Minderheit, der 3,5 Millionen Sudetendeutschen, bereits 1941 im Londoner Exil gefordert.

Zum Mitleid mit den Millionen betroffener Deutscher neigte kaum jemand, zu groß waren bei den östlichen Nachbarn Deutschlands die Leiden, die ihnen nationalsozialistischer Germanisierungswahn und deutsche Besatzungspolitik in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zugefügt hatten. Andererseits – das galt vor allem für die Westmächte – hielt man es aber auch für möglich, den gigantischen Bevölkerungstransfer in einigermaßen humaner Form durchzuführen. Das war, wie die Leiden und Verluste der Vertriebenen bewiesen, aus vielen Gründen eine irrige Annahme. Aber die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat war schon deshalb kein Genozid, weil es die Intention zu ihrer Vernichtung nicht gab. Die Feindbilder und Ressentiments, die während und durch die nationalsozialistische Herrschaft entstanden waren bzw. sich vertieft und verdichtet hatten, trugen zur Akzeptanz des Geschehens in erheblichem Maße bei und verhinderten Gefühle des Mitleids bei den unerfreulichen Begleitumständen, die der Austreibung oft vorangingen und sie begleiteten.[15] Die Vertreibung der Deutschen gehört in den Kanon der Massengewalt, die im 20. Jahrhundert geübt wurde. Aber ein Genozid war sie nicht.

Schwer zu beurteilen ist das Geschehen in Darfur, der Westprovinz des Sudan, in der seit Jahrzehnten Konflikte aus ethnischen und religiösen, politischen und ökonomischen Gründen von unterschiedlichen Interessenten instrumentalisiert werden. Dürrekatastrophen und Hungersnöte bilden den Hintergrund von Massengewalt in Form eines Bürgerkriegs mit genozidalen Zügen. Der Dauerkonflikt forderte Todesopfer in unbekannter Dimension. Die Schätzungen reichen von 70 000 bis zu einer halben Million; die Ursachen, Krankheiten, Hunger, Gewalt, sind nicht mit Sicherheit voneinander zu trennen. US-amerikanische Organisationen starteten eine Kampagne „Save Darfur“, die von der Tatsache eines Völkermords ausgeht und dem moralischen Postulat folgt, die Indolenz der Weltöffentlichkeit, wie sie beim Genozid in Ruanda zu beklagen war, dürfe sich unter keinen Umständen wiederholen. Die Kampagne nahm 2005 ihren Ausgang von einer Veranstaltung des US Holocaust Memorial Museums in Washington und hat damit eine ethische Position, die kaum Widerspruch zulässt und hohe Medienpräsenz garantiert.[16]

Einfache Erklärungsmodelle und Schuldzuweisungen nach dem Muster Araber gegen Afrikaner, Muslime gegen Andere sind aber so wenig hilfreich wie die Beschwörung des Holocaust oder dessen Instrumentalisierung für politische Interessen. Immerhin trat eine Kommission der UNO in Aktion, die Anfang 2005 keine Zeichen von Völkermord und keinen gezielten Staatsterror durch die Regierung des Sudan erkennen konnte. Aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind geschehen, ebenso Kriegsverbrechen im völkerrechtlichen Sinne, und der Internationale Strafgerichtshof bemüht sich seit 2007 um die Ahndung. Aber das Morden geht weiter, jenseits des Bemühens, Milizen oder Rebellen, Regierungstruppen oder Banden als Schuldige auszumachen. Auch den Massakern und der Massenflucht im Darfur-Konflikt liegen ausgeprägte Vorstellungen von Feinden zugrunde, die sich aus Vorurteilen entwickelt und zu unauflöslichen Ressentiments verdichtet haben.

Der Judenmord unter nationalsozialistischer Ideologie bleibt das Paradigma für die vergleichende Genozidforschung. Die Einzigartigkeit des Holocaust in der Dimension, der Systematik und der Perfektion des zielgerichteten Mordens und wegen des territorial unbegrenzten Anspruchs der Vernichtung ist durch die vergleichende Betrachtung anderer Völkermorde nicht tangiert.

Genozidforschung ist eine junge Disziplin, die wesentlich vom Vergleich der Ereignisse und Erscheinungen lebt. Der traditionell geübten Marginalisierung genozidalen Geschehens und — den kürzlich entstandenen und verdächtig rasch eingebürgerten Begriff aufgreifend — „ethnischer Säuberung“ im öffentlichen Diskurs ist als komplementäres Verhalten der schiefe Vergleich zur Seite getreten, der Bevölkerungstransfer ohne genozidales Motiv auf Grund seiner Phänomenologie als Völkermord verstanden wissen will, um damit Interessen durchzusetzen. Die Bestrebungen, ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu errichten, bei dem vor allem die Absicht, deutscher Leiden zu gedenken, ins Auge fällt, ist als Reflex auf die öffentliche Erinnerung des Holocaust, als Wunsch, ähnliche Rituale zu installieren, interpretierbar. Die Reaktionen auf Kritik am intellektuellen Konzept des Vorhabens lassen den Schluss zu, aus politischer Absicht würde Unvergleichbares gleichgesetzt, würden Ursachen gegenüber ihren Wirkungen verschwiegen und Folgen wie die Integration der ehemaligen Vertriebenen in die Aufnahmegesellschaften der beiden deutschen Nachkriegsstaaten würden gegenüber dem erlittenen Leid und den Verlusten keine nennenswerte Rolle spielen. Kritik am schiefen Vergleich und am Instrumentalisierungsversuch wird absichtsvoll missverstanden als Verweigerung gegenüber dem Bestreben, den Opfern der Vertreibung einen Platz in der Erinnerungskultur zu schaffen. Darum geht es nicht, wohl aber um intellektuelle Redlichkeit: Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa war kein Genozid und Versuche, die traurigen Ereignisse der Nachkriegszeit in die Nähe des Holocaust zu rücken, sind unredlich.

Die Wechselwirkung von Ideologie, politischem Programm, Intention einerseits und atavistischem Gewaltausbruch andererseits ist wesentlicher Bestimmungsfaktor für das Phänomen Genozid und ähnliche Manifestationen von Massengewalt. Auslösende Triebkräfte wie nationalistische Raserei, Rassenhass, ökonomische Interessen, soziale Frustration, Existenzangst, Erlösungswünsche sind die Motive, aus denen das Bedürfnis zur Freisetzung von Gewalt entsteht.

Eine verbindliche Definition des Tatbestands „Völkermord“ gibt es — trotz des Vorschlags Raphael Lemkins, der der UNO-Resolution von 1948 zu Grunde liegt — nur im Ansatz. Denn Juristen denken anders als Historiker und Politiker folgen ganz anderen Bedürfnissen als die Disziplinen der wahrheitsuchenden Wissenschaft. Die Angehörigen und Nachkommen der Täter haben eigene Schwierigkeiten, mit den Ereignissen umzugehen. Die Neigung, durch Leugnen oder Marginalisieren, durch Schuldumkehr dem jeweiligen Nationalstolz den Vorrang vor der Wahrhaftigkeit zu gewähren, ist groß und sie findet ihren Niederschlag in Beteuerungen der Medien wie Verlautbarung von Politikern, denen zufolge ein Völkermord nur eine „Vertreibung“ oder ein Bevölkerungstransfer war, deren Begleiterscheinungen — den Tod vieler Menschen — man bedauert, wenn man den Opfern nicht gleich die ganze Schuld an ihrem Untergang zuschiebt.

Vergleichende Genozidforschung ist sich der jeweiligen Eigenart des Ereignisses bewusst. Vergleich als wissenschaftliche Methode bedeutet weder „Gleichsetzung“ noch Nivellierung oder Marginalisierung. Vergleichende Genozidforschung leistet auch keiner Opferkonkurrenz Vorschub und lässt sich nicht in den Dienst politischer Interessen nehmen.

Massengewalt, das Feld, das mit politischen Metaphern wie Deportation, Vertreibung, „ethnische Säuberung“, Völkermord umschrieben ist, wird oft mit größerem Aufwand an Emotion als an kühlem Verstand bestellt: Dass der Erkenntnis des jeweiligen Sachverhalts wie seiner Dimension Leidenschaften nicht dienlich sind, zeigen die Wallungen nationalen Gefühls bei Türken, wenn vom Völkermord an den Armeniern die Rede ist. Andererseits ist das Missverständnis, dass die genaue Betrachtung und Beschreibung eines historischen Sachverhalts mit zu geringer Empathie für die Opfer oder zu wenig Nationalgefühl einhergehen müsse, anscheinend unauflösbar. Aber nur, wenn man weiß, wie es gewesen ist, wenn der historische Zusammenhang rekonstruiert und dargestellt ist, wird die Überwindung des Traumas der Ausgrenzung, der Verfolgung und der Vernichtung möglich, für die Nachkommen von Tätern wie von Opfern.

Zum Wesen des Völkermords gehören — das sollten die angeführten Beispiele zeigen — nicht nur die staatliche Organisation, die ihr zugrunde liegende ideologische Intention, sondern auch die Emotionen der Täter (Scham, Schuldbewusstsein oder trotzige Abwehr) und die Traumata der Opfer und ihrer jeweiligen Nachkommen. Gegenstände der Vergleichenden Genozidforschung sind außer der Rekonstruktion des Geschehenen, der Analyse der Motive, Triebkräfte und Interessen deshalb auch die Folgen des Völkermords, nämlich die gesellschaftliche, politische und juristische Aufarbeitung des Genozids und seine psychologischen und moralischen Wirkungen in dem Kontext, in dem der Völkermord geschah. Ziel einer vergleichenden Genozidforschung bleibt die Prävention (dazu ist komparatistisches Vorgehen unerlässlich) — auch wenn der referierende Historiker angesichts des vielfachen Ausbruchs von genozidaler Massengewalt in den sechs Jahrzehnten seit dem nationalsozialistischen Judenmord sich einer gewissen Resignation nicht erwehren kann.



[1] Vgl. Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004; Michael Mann, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, New York 2005 (dt. Hamburg 2007).

[2] Stuart D. Stein, Ethnic Cleansing, in: Ellis Cashmore (Ed.), Encyclopedia of Race and Ethnic Studies, Routledge 2003; Andrew Bell-Fialkoff, Ethnic Cleansing, London 1996.

[3] György Konrád, Mensch und Haus darf man nicht trennen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.1998.

[4] Final Report of the Commission of Experts Established Pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), 27 May 1994.

[5] Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg 2002; vgl. Robert Stockhammer, Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben, Frankfurt a. M. 2005.

[6] Yves Ternon, Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg 1996.

[7] Raphael Lemkin, Axis Rule in occupied Europe. Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, Washington 1944.

[8] Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg 2007.

[9] Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995; William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003.

[10] Vgl. den Überblick von Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen, München 2006; vgl. auch Imanuel Geiss, „Ethnische Säuberungen“, Massaker und Genozid. Ein historischer Überblick, in: Sozial. Geschichte 19 (2004), H. 1, S. 44—73; s. a. Wolfgang Benz, Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006; Eric D. Weitz, A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation, Princeton 2003; Dominik J. Schaller/Rupen Boyadjian/Vivianne Berg/Hanno Scholtz (Hrsg.), Enteignet – Vertrieben - Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004.

[11] Zur Vergleichbarkeit der Massengewalt unter nationalsozialistischer bzw. kommunistischer Ideologie vgl. in unserem Zusammenhang Susanne Heim, Bevölkerungsökonomie, Deportation und Vernichtung, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 501—513; Dieter Pohl, Nationalsozialistische und stalinistische Massenverbrechen. Überlegungen zum wissenschaftlichen Vergleich, in: Jürgen Zarusky (Hrsg.), Stalin und Deutschland, München 2006, S. 253—263.

[12] Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.

[13] E. Wetzel/G. Hecht, Die Frage der Behandlung der Bevölkerung der ehemals polnischen Gebiete nach rassennpolitischen Gesichtspunkten, Archiv Institut für Zeitgeschichte MA 125/9, S. 380.

[14] Winston S. Churchill, Reden 1944, gesammelt von Charles Eade, Zürich 1949, S. 459 f., zit. S. 468.

[15] Zur Leidensgeschichte der Heimatvertriebenen wie zu ihrer Integration gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur. Zu den Ursachen und Wirkungen der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten arbeitet der Verfasser an einer Monographie, die 2011 erscheinen wird.

[16] Gérard Prunier, Darfur. Der „uneindeutige“ Genozid, Hamburg 2007.