Johannes Lepsius, Orientmissionar: Annäherung an eine deutsche protestantische Biografie der Belle Epoque

Hans Lukas Kieser, Universität Zürich
2010

Vortrag auf der internationalen Konferenz »Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern« am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

Weite Bögen der Geschichte werden oft erst im Nachhinein sichtbar. Einige Zeitgenossen der 1910er Jahre spürten und schrieben, dass es Generationen brauchen werde, um adäquat auf ihre Zeit des Umbruchs in der europäischen und nahöstlichen Old World zurückzublicken. Die damalige Generation allerdings, darunter Johannes Lepsius, hatte im damaligen Jetzt zu handeln und ihre Stimme zu erheben.

Uns um ein Jahrhundert Nach-Geborenen ist Gelegenheit gegeben, im Abstand und, nicht zuletzt, in einem vergleichsweise zur Ruhe gekommenen Deutschland über die damalige Erfahrung von Urkatastrophe, über Wege dort hinein und den Umgang damit, einschließlich desjenigen von Lepsius, nachzudenken.

Ein origineller Akteur, Zeitzeuge und Zeithistoriker, bezog Lepsius mehr als damals in Geschichts- und Sozialwissenschaft üblich auch Religion und den Nahen Osten in seinen Zeithorizont ein. Lebte er als ein Methusalem noch heute, hätte er Grund zum Staunen darüber, dass zumindest eine der großen Fragen, die ihn umgetrieben hatte, nämlich die deutsche, nach einer weiteren Katastrophe Schritt für Schritt eine aufbauende Antwort gefunden hat und dabei einen heiligen Schrecken über den eigenen finalen Absturz bewahrt. Das hat er nichtmehr erlebt und es auch nicht antizipiert. Staunen aber vielleicht auch darüber, dass sein Herzensanliegen, die Armenier in der Türkei, erneut zum Thema geworden sind, nachdem die Zwischenkriegszeit, die so vieles in der Aporie beließ, es verschüttet hatte.

In einer ersten Etappe meines Referates möchte ich Lepsius' dreifaches Selbstverständnis als Deutscher, Protestant und Orientmissionar der Belle Epoque aufnehmen, um es in Beziehung zu setzen zu dem, was wir eine damalige ProtestantischeInternationale nennen können – ein informelles Netzwerk missionarischer Institutionen, Personen und Diskurse. Zweite Station soll eine Art Clip seiner hohen Erwartung einer friedvollen Synthese evangelischer Orientmission und deutscher Orientpolitik am Vorabend des 1. Weltkriegs sein; dritte Station schließlich, nur noch kurz, der Weltkrieg und die Zeit danach, als zwei von Lepsius' zeitgeschichtlichen Koordinaten, das wilhelminische Deutschland und die bisherige Protestantische Internationale, wegfielen.

Ziel der kurzen Annäherung ist es, einen Rahmen zu setzen, der Lepsius, seiner Vernetzung und seinem von Aporien gezeichneten letzten Lebensjahrzehnt zeitgeschichtlich und biografisch gerecht wird – und, last not least, uns dem Jahre 2015 gewitzigt entgegen gehen lässt.

1.

Erste Station. Weil „vom Leben zu weit losgelöst“, und aus „Gotteshunger“, wie er schrieb, wandte sich der junge Doktor der Philosophie dem Pfarrberuf zu und er hielt 1884 eine erste Stelle als Hilfsprediger der deutschsprachigen Gemeinde in Jerusalem. Sein Vater Karl Richard Lepsius, gestorben im selben Jahr, war Ägyptologe und Pionier einer wissenschaftlichen Herangehensweise an den Orient gewesen, was Expeditionen und Feldforschung einschloss.

Johannes Lepsius lernte mit Jerusalem eine Stadt kennen, die wie keine andere religiöses Erbe in ihrem Stadtbild und ihren Bewohnern spiegelte. Dazu gehörten die Armenier und ihre fast anderthalb Jahrtausende alte Kathedrale. Fortan trieb ihn die bedrohte Zukunft der osmanischen Welt und ihrer Christen um und war für ihn nicht mehr zu trennen von seinem Selbstverständnis als Christ. In Jerusalem kam er auch in Kontakt mit der englischsprachigen Missionswelt, die vor Ort Organisationen umfasste, die sich der Judenmission verpflichtet sahen. Ihr neuzeitlich protestantischer Slogan Restoration of the Jews postulierte eine jüdische Heimkehr nach Palästina, eine Hinwendung zum historischen und kommenden Christus, und die Neuerrichtung eines Israels der Juden.

Zugleich nahm Lepsius die Herausforderung wahr, Orientmission zu betreiben. So lautete seine Bezeichnung für eine evangelische Mission im mehrheitlich islamischen Nahen Osten. Die Suche nach einem christlich-muslimischen Brückenschlag beschäftigte ihn zeitlebens – wobei ihm nicht eine Bekehrung, sondern eine Art islamische Reform und Umkehr zu frühen Quellen des Islams vorschwebte. Dieser sei anfänglich nichts anderes als eine Art Judenchristentum für Heiden gewesen.

In Jerusalem heiratete er die Missionarstochter Margarethe Zeller und lernte u.a. Menschen aus der Schweiz und deren Netzwerke kennen. Basel, wo er später häufig weilte, war ein kontinentaleuropäischer Knotenpunkt der ProtestantischenInternationale, auch für die Verbindung ins osmanische Palästina, und ein Knotenpunkt christlicher und, ab Ende des 19. Jahrhunderts, auch jüdischer Zionisten, wo Theodor Herzl in einem ersten und an weiteren Kongressen einen politischen Zionismus in die Öffentlichkeit und in die Diplomatie trug. Margarete Zellers Großvater war der in Basel ausgebildete Samuel Gobat aus dem Berner Jura, der für vier Jahrzehnte als Bischof des merkwürdigen preußisch-britischen Bistums Jerusalem amtete. Es erlosch kurz nach Gobats Tod, drei Jahre bevor Lepsius eintraf.

Die erfahrensten missionarischen Akteure in der späten osmanischen Welt, insbesondere in Kleinasien, kamen aus den USA. Sie waren im frühen 19.Jahrhundert von der Idee der Restoration, weltweiter Evangelisierung und des Aufbaus eines globalen modernen Millenniums mit besonderer Verankerung in den Bibellanden ausgegangen. Eine vergleichsweise liberale osmanische Reformperiode im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ließ ihnen viel Freiraum für, trotz kühner Eschatologie, pragmatisches Vorgehen.Dazu gehörten viele Projekte, in den Städten und auf dem Land, in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Waisen-, Witwen- und Behindertenbetreuung, Arbeitsbeschaffung, Linguistik und Publizistik. Zu ihrer Hauptklientel wurden die osmanischen Armenier.

Zehn Jahre nach Lepsius' Aufenthalt in Jerusalem wurde diese Volksgruppe in Kleinasien zu Opfern großer Massaker. Die Wut richtete sich indes auch gegen die Amerikaner selbst; diese waren für die Akteure eines Islamismus, den Sultan Abdulhamid damals begründete, eine Speerspitze subversiven westlichen Protestantismus und ein Dorn im Auge. Für dieselben Akteure – erst seit Kurzem gibt es darüber universitäre Forschungen – galten die Armenier als Profiteure der osmanischen Reformen und, seit dem Berliner Kongress von 1878, als illoyale Günstlinge europäischer Großmachtpolitik. Gleichsam Startschuss der allgemeinen Massaker war am 17. Oktober 1895 die osmanische Unterschrift unter einen Reformplan gemäß Artikel 61 des Berliner Vertrags.

Nach der Rückkehr aus Jerusalem hatte Lepsius in Friesdorf eine Pfarrstelle gefunden. Der Paukenschlag Ende 1895, mitten in der Belle Epoque, fiel mit seiner gereiften Bereitschaft zusammen, eine eigene Orientmission zu gründen. Situativ begann diese nun als Armenierhilfswerk und wurde Teil des deutschen Gliedes einer transnationalen humanitären Bewegung für die Opfer der Massaker. Auch in dieser Bewegung waren von Beginn an die amerikanischen Missionarinnen und Missionare führend. Sie wurden auch zu Mentoren der neuen deutschsprachigen Organisationen in Kleinasien – so Corinna Shattuck für Lepsius in Urfa, dem künftigen Zentrum seiner Orientmission. Neben dem Willen zur Nothilfe an den Armeniern verband beide ein Bibelverständnis, das den Begriff und die Botschaft vom Reiche Gottes (auf Erden) ernst nahm, während einer „dualistisch-spiritistischen Weltanschauung der Orthodoxie und der modernen Theologie“, so Lepsius, „die Botschaft vom Reiche Gottes eine Thorheit bleiben“ musste.

Behelfsmäßig können wir Lepsius als von der Protestantischen Internationale und ihrer Nahostmission inspirierten, neupietistischen und liberalen lutheranischen Christen etikettieren. Netzwerkgeschichtlich war die moderne missionarische ProtestantischeInternationale eine Entwicklung der frühneuzeitlichen hugenottischen Internationale; utopiegeschichtlich könnten wir vielleicht so weit gehen und sie als älteren Bruder der kontinentaleuropäischen Sozialistischen Internationale bezeichnen, die einen klassenkämpferisch und säkular übersetzten, in eine proletarische Weltrevolution und eine klassenlose Gesellschaft mündenden Millenarismus verbreitete.

Während der Sozialismus im Kaiserreich von 1871 in einer eher lähmenden denn fruchtbaren Spannung zu Kirche und Christentum stand, begann kulturalistisches und rassisches Konkurrenzdenken seit dem späten 19. Jahrhundert den transnationalen Protestantismus zu überschatten – beides Hintergründe dafür, dass es in Deutschland nach den Massakern von 1895 zwar sehr wohl zu einer beachtlichen Solidarisierung kam, aber erst spät, und etwa im Unterschied zur Schweiz, nicht zu einem parteien- und religionsübergreifenden Schulterschluss für die Opfer. Viele Fürsprecher säkularen Fortschritts, links und rechts Gerichtete, argumentierten in Deutschland antikirchlich, oft unterschwellig antichristlich, und zudem zunehmend geostrategisch, indem sie auf deutsche Weltmacht gegen Russland und Großbritannien setzten.

Für die Entwicklung der Menschenrechte wichtige Keime menschlicher Solidarität mit den armenischen Opfern wurden mit geostrategischen oder georevolutionären Argumenten erstickt – etwas bei dem rechts gerichteten Journalisten Hans Barth, dem liberalen Pastoren Friedrich Naumann oder, etwas später, dem Sozialisten Parvus-Helphand; aber auch in den Kirchenleitungen selbst, die sich weitgehend einer obrigkeitlichen Logik der Freundschaft mit dem Sultan unterwarfen. In seinem reichhaltigen neuen Buch zeigt Axel Meissner dies sehr schön mit Blick auf Martin Rades Kampf an der Seite von Lepsius – ein Kampf für Solidarität mit den Opfern und für eine offene Berichterstattung.

In der Stunde armenischer Not, hoffte Lepsius 1896 auf das Beste aus Deutschland; dieses zugeben rief er das „christliche Deutschland“ in seiner vor Ort recherchierten Anklageschrift an die Großmächte auf. Als minderheitliches deutsches Glied einer vorwiegend calvinistischen und anglo-amerikanischen Internationale hoffte und pochte er auf den deutschen Beitrag – und zollte bisweilen dem Zeitgeist Tribut. „Der Geist Luthers und Calvins“ sei es gewesen, „der die germanischen Völker über die romanische Welt den Sieg“ habe davontragen lassen und der bewirkte, so Lepsius 1902, „dass die evangelischen Reiche Deutschland, England und Amerika gegenwärtig die Welt beherrschen.“ Solche und ähnliche hastige historische Kompressionen lechzten nach Bestätigung deutscher Weltgeltung auf Augenhöhe mit England und den USA. Problematisch und inflationär in diesem Zusammenhang Begriffe wie Welt, Kultur, Christentum und Germanentum – so auch in folgendem Satz aus Lepsius' selbem Vortrag von 1902: „Wenn es je […] zu einer christlichen Weltkultur kommen soll, die wert ist, den Nameneines Reiches Gottes zu tragen – welche Nation soll dazu in erster Linie das Werkzeug Gottes sein? Der Geschichtsphilosoph Houston Steward Chamberlain hat den germanischen Völkern dies Prognostikon gestellt, dass sie berufen seien, das Christentum in der Welt erst zur Herrschaft zu bringen – und es gibt einen Namen, der für das Recht dieser Prognose zu bürgen scheint: Martin Luther.“

Lepsius' Rückbindung an zeitkritische Kräfte in und außerhalb Deutschlands holten ihn jeweils zurück auf fruchtbareres Terrain und zu Raisonnements jenseits der zitierten, die dem im Zweiten Kaiserreich verankerten Nationalprotestantismus und seinen Irrwegen zugeordnet werden können. Im Falle Chamberlains erhob der jüdisch-christliche Basler Freund Johannes Heman in Lepsius' theologischer Zeitschrift Das Reich Christi entschiedenen Widerspruch.

Fazit unserer ersten Etappe: Situatives, vernetztes Reden und Handeln für Menschen in Not, einschließlich eines gründlichen und treffsicheren investigativen Journalismus waren Lepsius' Stärke. Hier kamen seine Gaben, seine Hingabe und die Quellen seiner Inspiration zur Geltung – und nicht in weltumspannenden Kommentaren, Prognosen und Programmen oder in systematischer Theologie.

2.

Zweite Station meines Vortrags ist eine Sternstunde europäischer Diplomatie und Klimax der Belle Epoque:

Die armenische Frage, damaliger Knackpunkt der Orientfrage, schien 1913/14 einer soliden und pragmatischen Lösung nahe, zusammen mit der Verwirklichung des jahrzehntealten, vielfältigen Traums eines von Deutschland mit gestalteten neuen Orients. Außer den betroffenen Armeniern fieberte da kaum jemand mehr mit als Orientmissionar Lepsius. Entgegen der Logik der herrschenden Bündnisse engagierten sich Deutschland und Russland 1913 gemeinsam für einen Reformplan, der das Versprechen des Berliner Kongresses erfüllen und das europäische Versagen von 1895 korrigieren sollte. „Die armenische Frage steht heute entschieden an einem Scheidewege“ schrieb am 24.Februar 1913 Botschafter Wangenheim dem Reichskanzler Bethmann Hollweg und verlangte eine grundlegende Kurskorrektur. Die berechtigten Anliegen der Armenier, so Wangenheim weiter, müssten ernst genommen werden, die „deutsche Presse müsste ihre bisherige ablehnende Haltung gegen alles Armenische aufgeben“. „Bei uns in Deutschland“ habe man „sich daran gewöhnt, in den periodisch wiederkehrenden Armeniermassakres nur die natürliche Reaktion auf das Aussaugesystem der armenischen Geschäftsleute zu sehen“ und dabei „die Armenier die Juden des Orients“ genannt. In Zukunft müssten „die Armenier die deutschen Behörden [primär die Konsuln] als unparteiische, im Notfall aber auch wirklich wirksame Beschützer kennen lernen“,so Wangenheim. Er sandte zudem eine historische Analyse der armenischen Frage nach Berlin, die die offiziellen Verlautbarungen der vergangenen zweiJahrzehnte zur Makulatur machte.

Eine bemerkenswerte Selbstkritik und edle neue Aufgabenstellung auf hoher politischer Ebene brach sich Bahn – selbst, wenn im Rahmen einer klaren Interessenpolitik in Kombination mit der Bagdadbahn. Im Gegensatz indes zu den auf küstennahe Gebiete beschränkten Bahnbauten der anderen Mächte, besaß die Bagdadbahn in der Tat ein nachhaltiges wirtschaftliches Entwicklungspotential für den ganzen Raum. Nach dem orientpolitischen „Armenian turn“ Deutschlands wäre den vergleichsweisen gutausgebildeten, sprachlich versierten Armeniern die Rolle privilegierter, aber nicht exklusiver Mitarbeiter zugefallen. „Keiner der türkischen Artikelschreiber verhehlt sich“, so Wangenheim in einer Auseinandersetzung mit negativer türkischer Presse, „dass bei unparteiischer und buchstäblicher Anwendung des ostanatolischen Reformprogrammes die osmanische Faust dem armenischen Kopf unterliegen muss.“

Lepsius war seit 1913 Vertreter eines deutsch-armenischen Komitees, das wie die Komitees in weiteren europäischen Ländern die diplomatischen Anstrengungen unterstützte. Zusammen mit dem Vertreter des britischen Komitees, Garabed Thoumajan, fand er sich im Januar 1913 im Auswärtigen Amt zu Gesprächen ein – eine noch kurz zuvor und vor allem in den 1890er Jahren undenkbare Kooperation. Sie wurde im ersten Halbjahr 1914 gekrönt durch den russisch-osmanischen Abschluss des Reformvertrags und die Gründung einer Deutsch-Türkischen und einer Deutsch-Armenischen Gesellschaft. Letzterer stand Lepsius vor. Noch im Juli 1914 stellte er befriedigt fest, dass in Deutschland „das allgemeine Urteil inSachen des armenischen Volkes sich von Grund aus [positiv] geändert“ habe. Eine einmalige Gunst der Stunde, ein Kairos, so schien es: Deutsche Orientmission und deutsche Orientpolitik fortan gemeinsam und international wohl vernetzt als führender Faktor einer prosperierenden Zukunft Kleinasiens und Mesopotamiens. Und im Zentrum dieser Vision vor Ort: eine osmanische Rechtsstaatlichkeit in Kleinasien, namentlich in dessen östlichem Teil. Darauf arbeiteten prominente osmanisch-armenische Reformkräfte seit Mitte des 19. Jahrhunderts engagierter hin als andere, da es für sie keine Alternative gab.

Ausgelöst durch das Attentat von Sarajewo, bündelte die Julikrise von 1914 auf einen Schlag die diplomatischen Risiken und Risse der Belle Epoque. Und in der Stunde der Krise zeigte sich, wie wenig prinzipienfest die neue deutsche Orientpolitik war. Kaiser Wilhelm lenkte Ende Juli hastig und entgegen der bisherigen Zurückhaltung deutscher Diplomatie auf den jungtürkischen Antrag zu einem deutsch-osmanischen Militärbündnis ein. Das diktatorische Einparteinregime der Jungtürken stand auf wackligen Füssen, auch international, nachdem es im Mai-Juni etwa 150'000 Christen von der Ägäisküste nach Griechenland vertrieben und damit ganz entgegen der Perspektive des Reformplans gehandelt hatte. Aber es hatte ein vergleichbar einfaches Spiel mit der deutschen Diplomatie; denn im Unterschied zur russischen, der es damals ebenfalls einen Antrag machte, beharrte Deutschland nicht auf dem Reformplan. Im Gegenteil, geostrategisch fixiert auf den am 1. August erklärten Krieg gegen Russland, gestand es denJungtürken eine für die Armenier gefährliche Verschiebung der Nordostgrenze hinzu den kaukasischen Muslimen zu.

Für den österreichischen Militärattaché in der osmanischen Hauptstadt, General Pomiankowski, fielen damals entscheidende antiarmenische Würfel. Lepsius ließ im Gegensatz zu einzelnen amerikanischen Missionaren keinen zeitigen Warnruf vernehmen – obwohl Deutschland drauf und dran war, gleichsam seine orientpolitische Seele zu verlieren, die sich ja in Lepsius' Logik der armenischen Zukunft verbunden hatte. Wie fast die ganze deutsche Intelligentsia war er im August von einem, wie Manfred Gailus es genannt hat, nationalen und insbesondere nationalprotestantischen Pseudo-Pfingsterlebnis geblendet. Das machte deutlich, wie wenig kritisch er schon zuvor Imperialismus, kulturellen Hochmut und den Sozialdarwinismus deutscher Eliten wahrgenommen hatte. Im August 1914 setzte er den Sieg deutscher Waffen mit demjenigen des Evangeliums und dem Durchbruch zum Weltfrieden gleich – eine unüberbietbar kurz geschlossene Apokalypse.

All dies muss gesagt und zum Teil noch ausgelotet werden. Besonders spannend, und wertvoll für eine Suche nach Spuren hin zu Pfaden jenseits der kollektiven Absturzstelle, ist indes Lepsius' Reorientierung bald danach.

3.

Und damit noch ein paar wenige Worte zu Lepsius' Lebensabschnitt ab 1915.

Aus der Außenperspektive betrachtet hat es lange gedauert, bis er die Annullierung seiner Orientvision in ihrer elementarsten Form, der beginnenden physischen Vernichtung der Armenier wahrnahm, die ja wichtige Akteure der Vision gewesen wären. Noch rechtzeitig, in der ersten Aprilhälfte 1915, hatte ein hoher osmanischerBeamte, Gouverneur Jelal in Aleppo, mit der Bitte um Gegenmaßnahmen die deutsche Diplomatie vor der allgemeinen Armenierfeindlichkeit gewarnt, die sich unter seinen jungtürkischen Parteikollegen breit mache. Die deutsche Diplomatiere agierte darauf nicht; im Gegenteil ließ sie sich Ende Mai nochmals instrumentalisieren und segnete sogenannt kriegsbedingte Umsiedlungen ab. – Diese diplomatischen Akten sind Dokumente deutscher Schwäche zugleich mit fehlgeleiteten Kalkülen der Macht, wie schon Rade-Mitarbeiter Ewald Stier, nachzulesen bei Meissner, festgestellt hat.

Die eigene Orientpolitik des Vorjahres war definitiv verraten. Aber erst sechs Wochen danach, Anfang Juli, gestand Wangenheim sich und dem Reichskanzler ein, dass der Bündnispartner nichts anderes als die physische Ausrottung der Armenier betreibe. Davon drang damals nichts zu den deutschen Armenierfreunden durch. Und die Berichte der Schweizer Presse und die warnende Deklaration der Entente schon im Mai scheinen auch an Lepsius spurlos vorübergegangen zu sein. Erst als er Anfang Juni ins Auswärtige Amt eingeladen und ihm ein Telegramm Wangenheims vorgelegt wurde, das von Umsiedlungen der Armenier sprach, läuteten bei ihm die Alarmglocken.

Nun stand ihm wieder, wie schon Mitte der 1890er Jahre, schlagartig das Schicksal der osmanischen Armenier als Stunde der Wahrheit europäischer Diplomatie, Deutschlands und christlicher Solidarität vor Augen. Mehr denn je mobilisierte er nun seine eigenen Ressourcen und diejenigen seines Netzwerks, auch amerikanische. Aus Kreisen der Protestantischen Internationale wurde im Herbst 1915, noch unter anderem Namen, das humanitäre Near East Relief gegründet. Für dessen Armenier- und vorübergehend auch Kurdenhilfe arbeiteten zum Teil Mitarbeiter von Lepsius' Orientmission in und aus Urfa.

Aus seiner Recherche-Reise nach Istanbul im Sommer 1915 ging sein »Bericht über die Lagedes Armenischen Volkes in der Türkei« hervor, der bis heute eine wegweisende Schrift geblieben ist. Lepsius erhob sich vom Sommer 1915 an unermüdlich und unerschrocken gegen jene zahlreichen Stimmen in Deutschland von rechts und links, die die Ausrottung eines Volkes wie die Armenier, „zumal Entente-freundlich“, als logisch, ja nützlich bezeichneten und eine Rede von Humanität und christlicher Solidarität, die materielle Hilfe einforderte, als im Weltkrieg deplatziert, ja schädlich für die eigene Kriegsanstrengung denunzierten. Im Kampf im Namen von Opfern, die systematisch ihres Lebens, ihres Gutes und ihrer letzten symbolischen Würde beraubt wurden, vermochte Lepsius sein Bestes zu geben. Publizistische Arbeit war es, die sein letztes Lebensjahrzehnt prägte. Die Verbindung mit den Armeniern war für ihn eine konkrete Lebensader, ohne die er sich viel eher in historische, politische oder theologische Abstraktionen verrannt hätte.

Schwierig und ambivalent wurde sein Räsonieren, wenn ihn abstrakte Allgemeinbegriffe aus der im Weltkrieg frustrierten wilhelminischen Belle Epoque einholten, z.B. Wortzusammensetzungen beginnend mit „Welt-“. Auch an diesem Punkt kann Lepsiusforschung in europäisch-türkischer Perspektive innovativ, kritisch und lehrreich einsetzen. So erregte ihn nichts so sehr wie „die Weltlüge von der moralischen Gleichgültigkeit der Deutschen Christenheit gegenüber der Vernichtung des armenischen Volkes und von der Mitschuld der Deutschen Regierung an den Deportationen und Massakers“. Zweifellos gab es propagandistische Verdrehungen oder Überzeichnungen. Lepsius verknüpfte indes in unnötig enger Weise die Frage nach Schuld und Verantwortung für den Völkermord mit der Frage nach der Kriegsschuld. Nach Innen gestanden christliche Kreise und Lepsius zwar eine deutsche Mitschuld auch in Bezug auf die Armenier ein. Nach Außen und auf eine politische Oberfläche brachten sie dies indes nicht. Das verbat der in der Weimarer Republik vorherrschende Mythos der Kriegsunschuld.

In der „Weltlüge“ steckte indes der Funken Wahrheit, der auch auf die deutsche Frage selbst ein Licht warf, dass Deutschland 1914 eigene Prinzipien hastig beiseite gestoßen und 1915 unversehens einen feinen, entscheidenden Teil seiner Seele verloren hatte – der in viel mühsamer, langwieriger Arbeit wieder zu suchen und zu finden war.