Publikationen in der Türkei zu 1915 – Restriktionen und ihre Überwindung

Raffi Kantian
2010

Vortrag gehalten im Rahmen der Konferenz: Johannes Lepsius und der Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern. Am 26./27. November 2010 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.

Zu 1915 gibt es in der Türkei eine Reihe von Publikationen. Nicht alle von ihnen haben einen akademischen Hintergrund, dennoch sollen sie bei der folgenden Typisierung berücksichtigt werden und das schon aus dem einfachen Grund, weil sie eine große Verbreitung finden.

Es sei festgestellt, dass diese Publikationen mehrheitlich negationistisch sind. Im Folgenden sollen zunächst die Letztgenannten knapp typisiert werden. Als Autoren bzw. Herausgeber sind Privatpersonen, Journalisten, pensionierte Diplomaten, Wissenschaftler, Handelskammer, Think-Tanks, staatliche Institutionen und Archive zu nennen.

•       Relativ zahlreich sind Bücher, deren Titel schematisch so lautet: „Die armenischen Grausamkeiten in der Stadt/Region XY“. Damit ist schon klar, dass mit einer kritischen Sicht bezüglich der türkischen Rolle nicht zu rechnen ist.

•       Eine Variante dieser Publikationen hat im Titel zusätzlich den Hinweis „anhand von Dokumenten“, womit eine Seriosität suggeriert wird. Ganz besonders wird das immer dann unterstrichen, wenn staatliche Archive als Herausgeber fungieren.

•       Durchaus üblich ist auch, dass Publikationen der genannten Art auch auf Englisch oder Französisch herausgebracht werden, um das Ausland auf diese türkische Sicht der Dinge aufmerksam zu machen.

•       Ebenso relativ zahlreich sind Bücher mit dem schematischen Titel: „Die armenischen Aufstände in der Stadt/Region XY“. Damit ist schon klar, dass auch hier auf eine kritische Sicht bezüglich der türkischen Rolle verzichtet worden ist.

•       Dann gibt es eine Vielzahl von Büchern, deren Titel an Deutlichkeit nicht zu übertreffen sind. Einige Beispiele: Büyük İhanet: Ermeni Kilisesi ve Terör (Der große Verrat: Die Armenische Kirche und der Terror); Diaspora Ermenileri'nin Soykırım Yalanları (Die Genozidlügen der Diaspora-Armenier); Don Kişot Sendromu: Ermeni Soykırımı Komedyası (Das DonQuijote-Syndrom und die Komödie des armenischen Völkermords); Eine Armenische Heuchelei; Emperyalizmin Maşası Ermeniler (Die Armenier: Handlanger des Imperialismus).

•       Beliebt sind auch Werke ausländischer Kronzeugen, so zum Beispiel des russischen Oberstleutnants Tverdohlebov „I Witnessed and Lived Through: Erzurum 1917/1918“. Näheres verrät der Klappentext: „Bei Durchsicht des Tagebuches wird das Ausmaß der armenischen Barbarei und der unfassbaren Morde deutlich … Was ich gesehen und gehört habe übersteigt alles, was ich über Armenier gehört und mir vorgestellt habe, schreibt der russische Oberstleutnant in seinen Memoiren. Das ist die beste Antwort auf die armenischen Unterstellungen.“ Interessant: Herausgeber ist das dem türkischen Generalstab unterstellte Archiv für Militärgeschichte und strategische Studien (Genelkurmay Askerî Tarih ve Stratejik Etüt Başkanlığı Arşivi).

•       Bei einigen Büchern kann man am Titel den Inhalt nicht erahnen. Ein solches ist „Ermeniler Zamanı Unutma!“ („Armenier: Vergesst die Zeit nicht!“) von Haluk Kırcı (2009). Der Klappentext sorgt für Klarheit: „Dieses gewaltige Werk präsentiert uns ein Volk mit einer unbestimmten Herkunft, das das türkische Volk aus der Geschichte ausradieren möchte … In diesem Werk werden wir die Gelegenheit haben, diese Armenier genannten Subjekte, diese Türkenfeinde noch besser kennenzulernen.“

•       Beliebt sind auch offizielle ausländische Quellen, die von Privatpersonen wie Institutionen herausgegeben werden. Die vierbändige British Documents On Ottoman Armenians (18911895), herausgegeben von der Türk Tarih Kurumu (TTK) (Türkische Historische Gesellschaft / Gesellschaft für Türkische Geschichte) ist eine solche Publikation. Näheres kann nur eine genauere Untersuchung ergeben.

•       Neben Büchern gibt es auch Zeitschriften, in denen Artikel zum Thema erscheinen. Interessant ist jedoch, dass es eigens eine Zeitschrift gibt, die sich „Armenischen Studien“, so ihr Titel, widmet. Sie wird vom Institut für Armenische Studien (Ermeni Araştırmaları Enstitüsü) herausgegeben, das im Jahre 2001 gegründet wurde. Es wird bis heute vor von Ömer Engin Lütem, einem pensionierten türkischen Botschafter geleitet. Die Geschehnisse von 1915 nehmen in der Zeitschrift einen deutlichen Platz ein. Die Beiträge sind bemüht, offizielle türkische Positionen zu rechtfertigen. Das Institut publizierte Ende Dezember 2008 auf ihrer Webseite die Erklärung von 146 ehemaligen türkischen Botschaftern[1] zur Internetaktion von türkischen Intellektuellen „Ich bitte um Verzeihung“ vom Ende 2008 – sie zog sich bis weit ins Jahr 2009 hinein. Der folgende Auszug daraus ist ein Beleg für die offenbar auch vom Institut vertretenen Ansichten, denn der Institutsdirektor gehört zu den Unterzeichnern:

„We are following with concern the media news that a number of academics and journalists are launching a campaign of ‘apology to the Armenians’ regarding the1915 events. We are presenting our views to the public in this regard believing that such a campaign will be unjustified, wrong and harmful with respect to our national interests.

Such an unrighteous and one sided initiative will constitute disrespect for our history and signify a betrayal to our people who have lost their lives due to the actions of terrorist organizations during the final periods of the Ottoman Empire and repeated also during the Republican era. Although the temporary relocation of Armenians in 1915, carried out under circumstances of war, has culminated in bitter results for the Armenians, the losses and tragedies encountered by the Turkish people due to Armenian rebellions and terrorist activities are not any less. Local and foreign sources clearly document the fact that Armenian terrorists, with the planned and continued incitement of foreign powers and by joining the invading enemy forces have inflicted mass violence against Anatolian people following the second half of the 19th century and later after World War I and during the initial periods of the War of Independence.“

Die vielleicht wichtigste Säule bei der „Abwehr armenischer Behauptungen“ ist die staatlich finanzierte Türk Tarih Kurumu (TTK) (Türkische Historische Gesellschaft/ Gesellschaft für Türkische Geschichte). Sie wurde in den Jahren 1993 bis 2008 von dem streitbaren Historiker Prof. Yusuf Halaçoğlu geleitet. Dieser ist seit den Wahlen vom Juni 2011 Abgeordneter der rechtsnationalistischen Partei MHP. Zur Arbeitsweise von Prof. Yusuf Halaçoğlu habe ich mich anderweitig geäußert[2], sodass ich mich hier mit meiner Bewertung „er betreibt nicht Wissenschaft, sondern imitiert sie allenfalls“ begnügen möchte.

Einige wenige Bemerkungen zu den nicht-negationistischen Büchern der Zeit vor 10 und mehr Jahren. Diese sind bei nicht-staatlichen Verlagen erschienen. Mehrheitlich sind die Autoren keine Türken, wie z.B. Yves Ternon, Vahakn Dadrian, Franz Werfel, Henry Morgenthau. Unter den sehr wenigen Türken ist Taner Akçam mit seinem ersten Buch „Die türkische Nationalidentität und die Armenische Frage“ aus demJahre 1992 zu erwähnen, mit dem ein authentisch an den Quellen orientierter Ansatz verfolgt wurde. Als Verlage sind neben dem Belge Verlag auch İletişim Yayınları zu nennen.

Repressionen

Die Unterdrückung der unliebsamen Publikationen hatte viele Gesichter:

•       Totschweigen: Kritische Bücher wurden nicht besprochen, sie wurden totgeschwiegen. Dabei gab und gibt es durchaus eine Reihe von Publikationen, die Rezensionen bringen. So zum Beispiel die wöchentlichen Literaturbeilagen der namhaften Tageszeitungen. Einbekanntes Beispiel ist Taner Akçams erstes Buch „Die türkische Nationalidentität und die Armenische Frage“ aus dem Jahre 1992, das seinerzeit konsequent totgeschwiegen wurde und deutlich später eine wenig rühmliche Erwähnung fand.

•       Konfiszierung: Eine weitere Methode bestand darin, bereits erschienene Bücher – größtenteils zu kurdischen Themen – zu konfiszieren, wodurch den zumeist kleinen Verlagen mit einer sehr dünnen Finanzdecke erheblicher materieller Schaden zugefügt wurde.

•       Rechtliche Restriktionen: Diverse Artikel des türkischen Strafgesetzbuches wurden hierfür herangezogen. Beliebt waren vor 1990 die Art. 141 und 142 sowie Art. 125 („Separatismus“). Der Letztere fand besonders bei den Kurden Anwendung. Europäische Kritik führte dazu, dass der damalige Ministerpräsident Turgut Özal stattdessen Art. 8 des Antiterrorgesetzes anwenden ließ. Wie das Ehepaar Ragıp und Ayşe Nur Zarakolu in einem ADK-Interview[3] zu Protokoll gaben, war Art. 8 genauso scharf und restriktiv wie Art. 141 und 142.Das Ehepaar gab zu bedenken, dass solange die Einstellung der Herrschenden sich nicht ändere, diese einen neuen Artikel finden würden, um missliebige Meinungen zu unterdrücken. Als Beispiel nannten sie den Nachdruck von Prof. Dadrians Buch„Genocide as a Problem of National and International Law - The World War I Armenian Case and its Contemporary Legal Ramifications“, in dem dieser nach Ansicht des Staatsanwalts gemäß Art. 312 Rassenhass gepredigt hatte. Im Falle einer Verurteilung führten rechtliche Restriktionen sowohl zu Geld- als auch zu Haftstrafen.

•       PhysischeGewalt: In besonderen Fällen griff man auch zu diesem Mittel. So wurde das Verlagshaus Belge 1995 Opfer eines Brandanschlags.

Die Wende zum Besseren und neue Herausforderungen

Wie problematisch die kritische Herangehensweise an 1915 selbst für linke Türken lange Zeit war, lässt sich am Beispiel von Aziz Nesin (1915 – 1995), kritischer Schriftsteller und Ikone der türkischen Linken, demonstrieren. Dieser war Anfang Juli 1965 in Armenien und besuchte dort den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes von Armenien, Eduard Toptschjan (1911 – 1975). Wenige Monate zuvor, genauer am 24. April 1965, hatten Armenier erstmalig mit einer gewaltigen Demonstration in Jerewan der Opfer des Völkermords von 1915 gedacht. In seinen Erinnerungen[4]beschreibt Toptschjan seine Begegnung mit dem Kollegen so: „Herr Nesin hat einige Male wiederholt, dass er ein Sozialist sei und die historischen Vorgänge stets von den Positionen des Klassenkampfes aus betrachte (… ). Nachdem ich seinen Artikel gelesen hatte, sagte ich ihm, dass ich diesen nicht abdrucken könne, weil darin die historischen Geschehnisse grob verfälscht seien (… ). Nach Ansicht von Nesin hatten die armenischen Massaker von 1915 auf Veranlassung des englischen Imperialismus stattgefunden und hinter der Demonstration vom 24. April 1965, mit der des Genozids gedacht wurde, steckte der amerikanische Imperialismus (… ). Wie konnte es sein, dass Herr Nesin in 1915 die blutige Pranke der Jungtürken, das kaiserliche Deutschland nicht sah? (… ) Als wir ihn danach fragten, lautete seine Antwort: er sei kein Historiker.“

Die Annäherung an die EU läutete eine Wende ein. Mitentscheidend war die von der EU immer wieder angemahnte Meinungs- und Redefreiheit als entscheidendes Kriterium für den Beitritt.

So kam es ab 2002 zu Reformen, die die Herausbildung einer, wenn auch noch schwachen Zivilgesellschaft begünstigten (der Menschenrechtsverein IHD wirkte gegen große Widerstände schon seit 1986). Diese stellte unter anderem die offizielle Geschichtsschreibung infrage. Wenn auch der Staat weiterhin Institutionen finanziert, die sich mit der „Abwehr der unbegründeten armenischen Behauptungen“ beschäftigen, leistete er bewusst oder unbewusst „Geburtshilfe“beim Zu-Stande-Kommen der so genannten „Armenier-Konferenz“ vom September 2005. So hatte ein Gericht auf Betreiben von türkischen Nationalisten diese Konferenz mit formalen Begründungen zu verbieten versucht, jedoch gab der damalige Justizminister Cemil Çiçek – der zuvor den Organisatoren der Konferenz unterstellt hatte, sie würden die Türkei „hinterrücks erdolchen“ – den entscheidenden Hinweis, der zur Durchführung der bislang freiesten öffentlichen Veranstaltung in der Türkei zu 1915 führte – der Ausdruck „Völkermord“ wurde freilich vermieden.[5] Zur Vervollständigung des Bildes sei gesagt, dass nationalistische Kreise als Reaktion darauf „alternative Konferenzen“ an anderen akademischen Standorten durchführten, bei denen sie ihre bekannten Thesen verbreiteten.

Seither konnten die Mitglieder der Zivilgesellschaft Tagungen wie auch Gedenkveranstaltungen zu 1915 durchführen, besonders öffentlichkeitswirksam im Jahr 2010 und 2011 (für eine ausführliche Berichterstattung siehe neben der deutschen und der internationalen Presse die ADK und die Webseite der Deutsch-Armenischen Gesellschaft[6]).In die gleiche Kategorie gehört auch die Internetaktion von Teilen der türkischen Zivilgesellschaft „Ich bitte um Verzeihung“. Bei all diesen Aktionen gab es Gegendemonstrationen bzw. Aktionen der türkischen Nationalisten.

Interessant ist die Rolle des Staates: Dieser hat sich schlussendlich in keiner Weise in 2010 mit Verlautbarungen für die Opfer von 1915 exponiert, allerdings diese weder verboten noch unterbunden.

In dieser etwas entspannteren Gesamtlage konnten Dinge gemacht werden, die zuvor schlecht bzw. nicht vorstellbar waren. So konnte Taner Akçam, dessen Bücher jahrelang mit Nichtbeachtung gestraft wurden, in der angesehenen Tageszeitung Radikal die Bücher des US-amerikanischen Historikers armenischer Abstammung Prof. Vahakn Dadrian vorstellen.

Und nahezu problemlos konnte der Belge Verlag bedeutende Bücher verlegen. Einige seien hier genannt: „Emvâl-i Metruke Olayı – Osmanlı’da ve Cumhuriyette Ermeni ve TürkMallarının Türkleştirilmesi” („Das herrenlose Eigentum – Die Türkisierung des armenischen und griechischen Eigentums bei den Osmanen und während der Republikzeit“) von Nevzat Onaran (2010), („Die Malta-Dokumente - das Dossier des britischen Foreign Office zu den türkischen Kriegsverbrechern”) von VartkesYeghiayan[7] (2007),„Kara Kefen – Müslümanlaştırılan Ermeni Kadınlarının Dramı” („Schwarzes Leichentuch – Das Drama der islamisierten armenischen Frauen”) von Gülçiçek Günel Tekin (2008). Genannt werden sollten auch der renommierte İletişim Verlag, Peri Yayınları und die Bilgi Universität, die neben dem bereits genannten Tagungsband auch den von Prof. Dadrian und Taner Akçam herausgegebenen Band zu den Istanbuler Kriegsgerichtsprozessen druckte.[8] Hervorheben möchte ich auch den 2009 bei İletişim erschienenen „Ermeni Tabusu Üzerine Diyalog” („Dialog über das armenische Tabu“) zwischen Ahmet Insel – dieser betrachtet 1915 als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und Michel Marian – für ihn ist 1915 ein Völkermord.

Aus all dem zu folgern, es herrschten in der Türkei normale, zivilisierte Bedingungen für die historische Erforschung von 1915 und die Publikation der Ergebnisse, wäre voreilig. Denn nach wie vor steht Art. 301 des türkischen StGB („Beleidigung des Türkentums“) im Fokus der Meinungs- und somit der Forschungsfreiheit und daraus resultierend der Publikation im Wege.

Dabei wurdeArt. 301 in den letzten Jahren novelliert: So wurden: „Türkentum“ und „Republik“ durch „türkische Nation“ und „Staat der Republik der Türkei" ersetzt; die maximale Länge der Haftstrafe wurde reduziert und zuletzt wurde im Jahr 2008 eine Sicherheitsklausel eingeführt, wonach eine Untersuchung über die Straftat der Verunglimpfung des „Türkentums“ erst dann durchgeführt werden kann, wenn der Justizminister dies genehmigt hat. Im Fall Altuğ Taner Akçam v.Turkey entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) Ende Oktober 2011 zu Gunsten des Klägers Taner Akçam.[9]

In der Presseerklärung des Gerichts heißt es, dass Art. 301 durch die Justiz viel zu vage und zu umfassend interpretiert werde. Folglich sei es Individuen nicht möglich, sich entsprechend zu verhalten bzw. die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen. Wenn auch im Artikel der Begriff „Türkentum“ durch „die türkische Nation“ ersetzt worden sei, gebe es anscheinend keine Veränderung in der Interpretation dieser Konzepte. Folglich stelle Art. 301 nach wie vor eine Gefahr bei der Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit dar. Wie an der Zahl der Ermittlungen und der strafrechtlichen Verfolgung abzulesen sei, könne jede Meinung oder Idee, die als schockierend oder störend angesehen werde, sehr leicht zum Gegenstand einer strafrechtlichen Ermittlung durch den Staatsanwalt werden. Tatsächlich erwiesen die Sicherheitsmaßnahmen, mit denen eine missbräuchliche Anwendung von Art. 301 durch die Justiz verhindert werden sollte, sich als unwirksam, weil jede Änderung des politischen Willens oder der Regierungspolitik die Interpretation des Artikels durch den Justizminister beeinflussen und den Weg für willkürliche strafrechtliche Verfolgung öffnen würde.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Reformeifer in der Türkei seit Jahren stark nachgelassen hat und die von der AKP gestellte Regierung, allen voran ihr Ministerpräsident Erdoğan, spätestens seit dem überwältigenden Sieg im Juni 2011 zunehmend autoritäre Züge trägt.

Gefährdet scheint auch die Meinungsfreiheit, die naturgemäß auch auf die Wissenschaftsfreiheit abfärbt. Wenn Journalisten sich zunehmend vorsichtiger verhalten, um sich nicht zu gefährden, so färbt sich das auch auf Historiker ab und die relativ günstigen Rahmenbedingungen, die es für eine gewisse Zeit gegeben hat, werden zurückgedreht. So forderte Dunja Mijatović, die OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, die türkischen Behörden am 4. April 2011 auf, die Mediengesetzgebung des Landes mit den OSZE-Verpflichtungen in Bezug auf die Freiheit der Medien in Einklang zu bringen. Eine Studie ihres Amtes zeigt, dass 57 Journalisten in der Türkei inhaftiert sind. „Die schiere Zahl der Fälle stellt grundlegende Fragen zu den gesetzlichen Bestimmungen über den Journalismus in der Türkei und gibt Anlass zur Sorge, dass die Zahl derJournalisten im Gefängnis sich weiter erhöhen kann“, so Mijatović. „DieOSZE-Teilnehmerstaaten, darunter auch die Türkei, haben bei verschiedenen Anlässen die Bedeutung der freien Meinungsäußerung und die Notwendigkeit, sie zu schützen, bekräftigt. Die OSZE-Verpflichtungen betonen, dass jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Dieses Recht schließt die Freiheit, eine Ansicht zu vertreten sowie ohne behördliche Eingriffe Informationen und Ideen zu empfangen und weiterzugeben, ein. Die Türkei bekräftigte die Notwendigkeit, diese Werte zu schützen zuletzt auf dem OSZE-Gipfel 2010 in Astana“, stellte Mijatović fest.

Die Macht der Tradition und 1915

Warum die politische Türkei sich so schwer mit dem Völkermord an den Armeniern tut, das ist ein weites Feld und kann hier aus Platzgründen nicht erläutert werden. Summarisch sei gesagt, dass die Staatsführung, so auch der Ministerpräsident Erdoğan, mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, dass für sie selbst der Begriff „Völkermord“ unannehmbar ist. Abgesehen davon ist die Meinungsvielfalt ein eher neueres, gegenwärtig wieder gefährdetes zartes Pflänzchen. In einem Land, wo die Vorgaben der Herrschenden für die veröffentlichte Meinung, auch bei Historikern, sehr lange Zeit maßgeblich waren, und auch noch heute bei etlichen sind, können von außen angestoßene Reformen nicht rasch einen grundsätzlichen Wandel herbeiführen.

Was bleibt sind bestimmte „Erfahrungen“, die die Menschen über sehr lange Zeiträume gemacht haben und am prägnantesten durch eher populäre Formulierungen zum Ausdruck gebracht werden.

Dazu zwei Beispiele:

Der renommierte Historiker der mittleren Generation und ein erklärter Gegner der„offiziellen Geschichte“, Prof. Cemil Koçak, er lehrt bezeichnenderweise an der privaten Sabancı Universität, beantwortete die Frage der angesehenen Journalistin Neşe Düzel „Warum lügen wir in historischen Dingen so sehr? Kennen [unsere] Historiker die Wahrheit nicht?“ wie folgt: „Es gibt [bei uns] drei Sorten von Historikern. Die einen finden sehr schnell heraus, dass sie dann rasch Karriere machen [können], wenn sie über die herrschenden ideologischen Paradigmata schreiben. Und die Mehrheit geht diesen Weg. Dann gibt es eine zweite Sorte Historiker. Diese kennen die Wahrheit, aber sie sprechen nie öffentlich darüber. Sie kennen die Nachteile, die dann zu erwarten sind, wenn sie das offizielle Paradigma missachten. Und wenn jemand die Wahrheit sagt, dann schmunzeln sie. In privaten Unterhaltungen sagen sie deutlich mehr als die anderen. Die dritte Sorte Historiker ist die kleinste Gruppe. Diese nennen die Dinge beim Namen und schreiben auch darüber. Aber wer hört ihnen schon zu und wer liest ihre Texte?“[10]

Das zweite Zitat stammt vom Engin Ardıç, einem gestandenen Intellektuellen, der in seinen Kolumnen es wie kein zweiter versteht, komplizierte Sachverhalte griffig zu präsentieren. Hier ein Auszug aus seiner Kolumne zum oben erwähnten ECHR-Urteil:

„Die Formulierung ‚Wir überlassen das den Historikern‘ hat bei uns in der Sprache der Bürokraten drei Bedeutungen:

1.  Wir tun so, als würden wir es den Historikern überlassen. Tatsächlich jedoch tun wir es nicht.

2.  Wir überlassen es den Historikern, aber wir suchen solche aus, die mit uns einer Meinung sind.

3.  Wir überlassen es den Historikern, aber sie liefern jene Ergebnisse, die wir haben wollen.

Darüberhinaus können wir Nebenbedeutungen wie ‚Wenn sie zu Ergebnissen gelangen, die nicht in unserem Interesse sind, dann machen wir sie fertig‘ hinzufügen.“[11]


[1] http://www.eraren.org/index.php?Page=Sayfa&No=44

[2] Raffi Kantian: Aspekte der Armenisch‐Türkischen Protokolle im Lichte der Genozid‐Diskussion in der Türkei ‐ Eine armenische Sicht, http://lepsiushaus.files.wordpress.com/2011/04/kantian_aspekte‐derarmenisch_tc3bcrkischen‐protokolle‐im‐lichte‐der‐genozidsiskussion‐in‐der‐tc3bcrkei‐tagung‐lepsi.pdf

[3] ADK 90 / Dezember 1995, S. 38‐43.

[4] Grakan Tert, 30.09.2011, S. 5.

[5] Wenn auch mit großer Verspätung erschien 2011 der Tagungsband zu dieser Konferenz: „İmparatorluğun Çöküş Döneminde Osmanlı Ermenileri – Bilimsel Sorumluluk ve Demokrasi Sorunları“ („Die osmanischen Armenier in der Phase des Niedergangs des Reiches – Wissenschaftliche Verantwortung und Fragen der Demokratie“), İstanbul Bilgi Üniversitesi Yayınları 2011, ISBN 978‐605‐399‐190‐8. Auf der beigefügten DVD ist ihre Genese mit deutlichen Hinweisen zu den angedeuteten Hindernissen enthalten, daneben der Auftritt Hrant Dinks.

[6] www.deutscharmenischegesellschaft.de

[7] RA Vartkes Yeghiayan war einer der Berater beim Film „Aghet – Ein Völkermord“ von Eric Friedler.

[8] Tehcir veTaktil Divan‐ı Harb‐i Örfi Zabıtları İttihad ve Terakki’ninYargılanması 1919‐1922,Istanbul Bilgi Üniversitesi Yayınları; İstanbul, 2010

[9] http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/

[10] Taraf, 11.11.2009. http://taraf.com.tr/makale/8432.htm

[11] Sabah, 27.10.2011. http://www.sabah.com.tr/Yazarlar/ardic/2011/10/27/oyle-de-bir-biraktirirlar-ki